Alles eine Frage der Zeit? Zeit und soziale Gerechtigkeit
Viele Themen galten lange Zeit als unpolitisch und privat. In ihrem Buch Alle_Zeit: Eine Frage von Macht und Freiheit schließt Teresa Bücker an den Slogan der feministischen Bewegung der 60er und 70er Jahre „Das Private ist politisch“ an und zeigt auf: Womit wir unsere Zeit verbringen, ist politisch – und das schließt unsere „freie“ Zeit mit ein.
Drei Viertel aller Mütter minderjähriger Kinder können sich nicht ausreichend erholen. Die Erhebungen zeigen, dass insbesondere Familien auf Unterstützung angewiesen sind. Keine individuellen Lösungen, sondern eine grundsätzliche Neuverteilung von Zeit und eine „Zeitkultur“, die Solidarität zum primären Gestaltungsprinzip von Gesellschaften ernennt, sind erforderlich, so eine zentrale Forderung des Buches. Die Journalistin und Autorin beschreibt auf nahezu 400 Seiten ein strukturelles Empfinden von Zeitmangel und setzt dieses in Zusammenhang mit anderweitigen spätkapitalistisch bedingten erwerbs- und außererwerbstätigen Anforderungen und Pflichten.
„Care“ braucht Zeit: Das heißt konkret, soziale Beziehungen, Sorgearbeit, politische Beteiligung und auch Erholung brauchen Zeit, so Bücker. Die Wochenarbeitszeit von Vollzeitjobs habe sich jedoch in den vergangenen 30 Jahren kaum reduziert und Sorgearbeit bleibt neben der Erwerbstätigkeit zweitrangig, entpolitisiert und weiblich konnotiert. Es wird deutlich: Alle_Zeit bietet eine feministische Perspektive, ist im Kern aber eine umfassende Forderung nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, sozialer Gerechtigkeit und Lebensqualität. Auch drängende politische Fragen wie die Überforderung von Care-Personen und der Fachkräftemangel lassen sich aus dem Blickwinkel der Zeitökonomie beleuchten. Teresa Bückers Buch lädt dazu ein, die Richtlinien, nach denen gemeinhin der Alltag getaktet ist, neu auszuloten und erinnert daran, sich für die Werte, Personen und Dinge, die wichtig sind, – auch als Gesellschaft – Zeit zu nehmen.
Bücker, Teresa (2022): Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Berlin: Ullstein Buchverlage.
Lisa Gerstmayr