Die Fotografin und Autorin Herlinde Koelbl im Porträt
Von Andreas Kolb
Bereits in jungen Jahren verließ Herlinde Koelbl ihre Heimatstadt Lindau und nahm in München ein Modestudium auf. Sie heiratete früh und zog vier Kinder groß. Dass der Text an dieser Stelle nicht aufhört, sondern erst richtig anfängt, hat damit zu tun, dass Herlinde Koelbl mit Ende 30 beschloss, noch einmal komplett neu anzufangen. Eine Phase großer Produktivität hatte begonnen. Am Anfang standen nicht ausschließlich die eigenen Foto- und Buch-Projekte, für die sie heute bekannt ist. Das Konzept hieß zunächst: Aufträge annehmen, um ihre freien Projekte zu finanzieren. Koelbl arbeitete als Fotografin für den Stern, das ZEITmagazin und die New York Times.
1979 erschien ihr erstes Buch im Verlag Hugendubel, „Bayerische Märkte“, danach folgten Bücher und Projekte fast im Jahresrhythmus. 1980: „Das Deutsche Wohnzimmer“ (Bucher), 1982: „Dienst am Volk“ (Bucher), 1984: „Männer“ (Bucher), 1986: „Feine Leute. Photographien der Jahre 1979 bis 1985“ (Greno), 1998: „Im Schreiben zu Haus“ (Knesebeck) und 2012: „Kleider machen Leute“ (Hatje Cantz) … Die Liste lässt sich bis 2021 fortsetzen.
Die Freiheit, an einem Projekt zu arbeiten, ohne dass einem jemand sagt, was man anders machen oder noch berücksichtigen sollte oder bis zu welcher Deadline man fertig sein musste – diese große Freiheit, ein Projekt zu erkunden, war der spätberufenen Autodidaktin zentral wichtig. Herlinde Koelbl hatte nie einen Vertrag, sondern arbeitete auf eigenes Risiko. Sie erinnert sich an die Anfangszeiten zu Beginn der 1980er Jahre: „Damals als ich meine Wohnzimmer-Fotos fast fertig hatte, habe ich mich umgesehen, wer überhaupt Fotobücher publiziert. Ich kannte niemanden und hatte keine Beziehungen. Ich habe bei Schirmer/Mosel angerufen und gesagt, dass ich Menschen im Wohnzimmer fotografiere. Da fragte mich der Herr Schirmer: ‚Haben Sie einen Namen?‘ und ich sagte ‚Ja klar! Koelbl!‘. Da sagte er ‚Nein, so meine ich das nicht. Wissen Sie, wir verlegen nur Berühmte und Tote.'“ Das war ihr erster, zunächst ernüchternder Kontakt mit Verlagen. Das erste Buch „Deutsche Wohnzimmer“ kam dann beim Bucher Verlag heraus, weitere folgten und aus den Büchern wurden zahlreiche Ausstellungen an verschiedenen Galerien und Ausstellungshäusern.
Das Fotografieren hatte sie nie gelernt, Vorbilder gab es keine, und sie ist fest überzeugt davon, dass ihr Modestudium keinen Einfluss auf ihre Fotografie hatte. Gerade dass sie so ganz aus sich selbst heraus angefangen hat, ist Teil der Faszination, die die Person und Künstlerin Koelbl ausstrahlt. Unbestritten fand ihr langjähriges Interesse für Verhaltensforschung Eingang in ihre Fotografie. In den 1970er Jahren las sie alles, was es darüber an neuerer Forschung gab: Humanpsychologie vor allem, aber auch Arbeiten der US-amerikanischen Ethnologin Margaret Mead oder des österreichischen Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Und so wurde die Verhaltensforschung für sie ein Schlüssel zu ihren Bild-Motiven. Die menschliche Körpersprache zu verstehen, lernte Koelbl aber auch in der Beschäftigung mit Stücken des österreichischen Pantomimen Samy Molcho oder des Franzosen Marcel Marceau. Mit moderner Verhaltensforschung hat ihre Arbeitsweise als Fotografin gemeinsam, ihre Objekte einer sozialen Deutung zu unterziehen. Über das mimische und gestische Verhaltensrepertoire der jeweiligen von Koelbl porträtierten Menschen hinaus interessiert sie sich insbesondere für den sozialen Kontext der abgelichteten Situation.
„Ich sehe mich als Menschenforscherin. Mich hat von Anfang an mehr interessiert als nur die Fotografie. Ich wollte nicht nur das Physische der Menschen abbilden, sondern mich hat auch der Geist interessiert. Wie denken die Menschen, wie ticken sie? Haben sie Visionen? Beim ‚Deutschen Wohnzimmer‘ sind schon sehr treffende Texte dabei. Wobei natürlich das Physische immer der erste Blick ist in der Fotografie, das andere kommt dann dazu.“ Keine Regel ohne Ausnahme: Bei dem Buch „Feine Leute“ gibt es keine Texte, sondern nur die Körpersprache. Koelbls Kunst richtet sich nach dem Thema.
Ein Schlüsselwerk im Schaffen von Herlinde Koelbl war der Bildband „Jüdische Portraits: Photographien und Interviews“ (S. Fischer, 1989). Zwischen 1986 und 1989 traf Herlinde Koelbl deutsch-jüdische Persönlichkeiten, welche die Shoah überlebt hatten. Die Foto-Serie umfasst 80 großformatige Porträts von so bekannten Personen wie Grete Weil, Marcel Reich-Ranicki oder Simon Wiesenthal. Auch bei diesem Projekt legte sie großen Wert auf Text: Den Fotos hat Herlinde Koelbl Interviews, die sie mit den Porträtierten geführt hat, zur Seite gestellt. So fügen sich Gesichter und Aussagen zu einer einzigartigen Studie über Trennendes und Verbindendes zusammen.
„In diesen Gesichtern sieht man die Lebensspuren in ganz beeindruckender Weise. Bei den jüdischen Porträts habe ich damals nicht so sehr nach dem persönlichen Schicksal gefragt, sondern nach Grundsätzlichem: nach jüdischer Identität. Nach Heimat. Nach Glaube an Gott nach Auschwitz. Was es bedeutet, dass der Messias wiederkommen soll, ein wichtiger Aspekt der jüdischen Religion. Ich wollte die Gesichter noch einmal zeigen und auch das, was Deutschland ausgelöscht und verloren hat.“
Mitten in ihre Karriere als international wahrgenommene Fotografin musste auch sie den digitalen Wandel durchlaufen. Das hieß für sie: „Lernen. Das muss man einfach lernen! Da ich meine Filme immer selbst entwickelt hatte und viele Jahre selbst im Labor gestanden bin, wusste ich sehr genau, was man tun muss, um Fotos auf gute Weise zu verbessern. Das heißt, ich kannte die Laborarbeit und konnte die Arbeit am Computer dadurch sicherlich schneller lernen.“
Zum Film kam Koelbl durch ihr Projekt „Spuren der Macht“ im Jahr 1991, wo sie von Anfang an nicht nur Interviews führte und fotografierte, sondern auch filmte. Und zwar allein, ohne Team: „Das habe ich ganz bewusst so entschieden, denn jegliches Team verändert die Atmosphäre zwischen zwei Menschen.“ Damals, als man noch nicht mit digitaler Filmkamera oder gar mit Handy-Kamera Profi-Ergebnisse erzielen konnte, war das Pionierarbeit.
„Spuren der Macht“ wurde das, was man in der Musik als Hit bezeichnen würde. Für das Projekt suchte Koelbl mehrere Persönlichkeiten aus, die neu in ein hohes öffentliches Amt gekommen waren und mit Zukunftschancen rechnen durften, darunter Joschka Fischer, Gerhard Schröder, Angela Merkel, Arnold Vaatz, Frank Schirrmacher, Renate Schmidt, Monika Hohlmeier und Irmgard Schwaetzer. Die Fragestellung der Münchener Foto-Forscherin hieß, wie verändert Macht die Menschen? „Spuren der Macht“ war als eine Langzeitstudie auf mindestens acht Jahre angelegt. Während zweier Legislaturperioden beobachtete sie, wie Menschen auch mit Krisen umgehen, etwa wenn sie ihr Amt verlieren. Koelbl begann 1991, 1998 war das Vorhaben abgeschlossen. 2005, als Angela Merkel Kanzlerin wurde, führte sie das Projekt mit ihr allein weiter. 2021 ist dann der letzte Fototermin gewesen. Koelbl begleitete die Kanzlerin von Anfang an bis zum Ende ihrer politischen Ära. Das Ergebnis liegt als Buch unter dem Titel „Angela Merkel. Porträts 1991–2021“ (Taschen) vor.
„Ich hatte mir von Anfang an überlegt, wie ich diese Menschen möglichst objektiv begleiten kann, damit sichtbar wird, wie die Öffentlichkeit und die Macht die Körpersprache eines Menschen und ihn selbst verändern. Deshalb fotografierte ich immer ein Kopfporträt und ein Körperporträt. Denn die Körpersprache sieht man natürlich nur am Körper und im Gesicht dann die Spuren der Veränderung. Erst überlegte ich, die Machtsymbole einzubeziehen, also große Zimmer, Schreibtische, Bilder und alles, was so zu sehen ist. Dann wurde ich minimalistisch, bis auf eine weiße Wand und einen simplen Stuhl habe ich alles verworfen. Sodass man konzentriert ist auf den Menschen, darauf, wie er aussieht und wie er sich verhält. Ganz bewusst war das auch in Schwarz-Weiß, weil sonst die Farbe der Kleidung zu sehr ablenkt.“
Auch jetzt ist die Menschenforscherin Koelbl produktiv. Von Mai bis September wird eine große Ausstellung mit allen Bildern von Angela Merkel im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen sein. Dazu macht sie in diesen Tagen noch ein kurzes Video mit der Kanzlerin a.D. Außerdem bereitet sie gerade das Thema „Faszination Wissenschaft“ (Knesebeck Verlag) auf. Für dieses Buch-Projekt von 2019 besuchte sie die Elite der Naturwissenschaft auf der ganzen Welt. Das Fotobuch ist inzwischen auf Englisch, Chinesisch und Koreanisch erhältlich. Dazu gibt es jetzt eine Ausstellung in Baltimore und noch in diesem Jahr auch in Heilbronn, Halle, Münster und Tokio.
Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.