Marion Eichmann im Gespräch
Ein Jahr lang arbeitete die Künstlerin im Auftrag des Kunstbeirats in den Häusern des Parlaments. Entstanden sind dabei mehr als 100 Papierschnitte, Collagen und Zeichnungen, die das Parlament aus ungewohnten Blickwinkeln zeigen. Im Gespräch mit Cornelie Kunkat berichtet sie über ihre Arbeiten und die Ausstellung „Sight.Seeing. Ein Jahr in der Herzkammer der Demokratie“.
Cornelie Kunkat: Frau Eichmann, am 1. Juni eröffnet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas Ihre Ausstellung „Sight.Seeing. Ein Jahr in der Herzkammer der Demokratie“. Sie haben über 100 Papierarbeiten angefertigt und dafür das vergangene Jahr im Deutschen Bundestag verbracht. Wie gehen Sie bei Ihren Arbeiten vor? Wie kommt es von der Beobachtung zur dreidimensionalen Papierarbeit?
Marion Eichmann: Ich bin grundsätzlich nicht auf der Suche nach einer Sache, sondern ich gehe los, lege dann Stopps ein, weil ich denke, das könnte jetzt spannend aussehen. Habe ich mein Skizzenbuch dabei, fange ich gleich an zu zeichnen. Egal, wo. Es kann alles sein. Ich messe auch manchmal Dinge mit den Füßen ab, um die Maßstäblichkeit zu erfassen. Im Berliner Atelier fange ich dann an und entscheide, ob ich in die Zeichnung, ins Malerische oder ins Objekthafte gehen möchte.
Als Bundesbürgerin und langjährige Berlinerin hatten Sie sich sicherlich bereits ein Bild vom Deutschen Bundestag gemacht. Wie war es dann für Sie, ein gesamtes Jahr in den diversen Innen- und Außenräumen zu arbeiten? Hat sich Ihre Vorstellung vom Deutschen Bundestag gewandelt?
Ja, das ist eine gute Frage. Zunächst gab es bis zum Arbeitsbeginn viele Zwischenstationen. 2015 hat der Bundestag zwei meiner Arbeiten erworben. 2020 wurde ich von der Kuratorin Kristina Volke eingeladen, und bin mit ihr durch das Paul-Löbe‑, Marie-Lüders- und Jakob-Kaiser-Haus gegangen. Am Ende stellte sie mir die Frage, ob ich mir vorstellen könne, hier einmal zu arbeiten, weil der Kunstbeirat insbesondere meine objekthaften Arbeiten so schätze. Ich habe unmittelbar zugesagt. Mit Arbeitsbeginn bekam ich aber auch wieder sehr großen Respekt vor dem Auftrag, bin kilometerlange Strecken durch die Gebäude gelaufen und wusste gar nicht, wo ich anfangen soll. Es war ja alles möglich. Aber ich habe das Haus in diesem Jahr so gut kennengelernt, dass ich zum Schluss dachte, ob ich jetzt da oder in meinem Atelier arbeite, das spielt gar keine Rolle mehr.
Wegen der Coronapandemie waren natürlich weniger Parlamentarier vor Ort. Wie haben sie auf Ihre Arbeiten reagiert?
Dadurch, dass ich keine Porträts machen sollte, sondern objekt- und raumbezogen gearbeitet habe, war der Umgang unkompliziert. Ich habe die Neugier der Abgeordneten und auch des Sicherheitspersonals bemerkt, aber es ist schon ein Unterschied zu meinen anderen Projekten, die städtebezogen sind. Da bin ich eher umringt von Menschen, die mir bei der Arbeit zuschauen. Dort war alles sehr zurückgehalten, wobei ich auch vermieden habe, während der Sitzungswochen vor Ort zu sein.
Ich habe im Katalog gelesen, dass der Bundestag ganz bewusst ein Ort für zeitgenössische Kunst sein soll, um damit Inspiration, Nachdenken und Perspektivwechsel in das Haus zu bringen. So gab es auch eine offizielle Einladung an die Parlamentarier, Ihnen bei der Arbeit zuzuschauen und ins Gespräch zu kommen. Hatten Sie das Gefühl, dass Ihr Arbeiten dort und Kunst im Allgemeinen die Parlamentarier bewegt?
Ja, ich glaube schon. Einige Leute haben die Zeit genutzt, und ich kam in Gespräche, auch mit Claudia Roth. Eine andere interessante Begebenheit gab es gleich zu Beginn: Anfangs bin ich immer mit Begleitung durchs Haus gelaufen, einem Juristen. Nach zwei Stunden sagte er zu mir: »Frau Eichmann, ich habe noch nie so viel wahrgenommen. Sie bleiben an so vielen Orten stehen, wie jetzt auch wieder, und ich sehe das plötzlich mit ganz anderen Augen.« Ich denke, das spiegelt sich auch in meinen Arbeiten wider – sie zeigen einen Blick hinter die Kulissen, sie zeigen Gegenstände, die man nicht unbedingt erwartet, wenn man an das Reichstagsgebäude denkt. Ich habe versucht, auch untypische Dinge rauszufiltern, wie einen Hubwagen, die Sporthalle, Bewachungskameras oder beklebte Straßenschilder, und nicht nur eine schöne Ansicht von dem Außengebäude.
Bei Ihren früheren Arbeiten fällt mir auf, dass die Orte, an denen Sie gearbeitet haben, Tokio, Istanbul oder New York, Ihren Strich, Ihre Kolorierung und Dreidimensionalität beeinflusst haben. Es entstanden unterschiedliche Atmosphären und Objektestile. Hat Ihr Jahr im Bundestag ebensolche Einflüsse auf Sie gehabt?
Also ich glaube, verändert hat sich meine Arbeit nicht, aber es ist etwas dazugekommen. Denn alles, was vorher war, nehme ich ja quasi mit. Aber der Bundestag war für mich wieder ein absolut fremder Ort, dem ich versuchte, neutral und bewusst nicht politisch zu begegnen, um keine Wertung vorzunehmen und einen freien Blick auf die Räume zu bekommen.
Anfangs ist es immer so, dass ich die Hauptmerkmale rausfiltere. Auffällig waren für mich die Ruhe und die räumlichen Dimensionen. Von der Farbigkeit ist ja alles sehr, sehr dezent oder in Grau gehalten. Dafür spielt das Licht immer eine entscheidende Rolle. Insofern hat mich die Architektur des Gebäudes überwältigt. Und daher habe ich mich intensiv mit der Zeichnung, mit der Perspektive, mit der Architektur auseinandergesetzt. Ich habe versucht, in der Linienführung mit dick, dunkel oder leichten Linien, etwas rauszukitzeln. Insofern kann ich schon sagen, dass diese Auseinandersetzung mit Architektur eine absolute Erweiterung darstellt und mich sehr bereichert hat. Und ich glaube, dass jetzt auch ein guter Zeitpunkt dafür war, weil ich wahrscheinlich vor fünf Jahren so weit noch nicht gewesen wäre, in solchen Dimensionen zu arbeiten.
Wo werden die Bilder im Bundestag zu sehen sein?
Sie werden bis Mitte September im Reichstagsgebäude gezeigt, und zwar in der Abgeordnetenlobby. Ein kleiner Teil wird parallel in der Galerie Tammen gezeigt, danach gehen viele Arbeiten weiter nach Brüssel.
Und wird es weitere Ankäufe geben vom Deutschen Bundestag?
Ja, das ist eine schöne Frage. Und ich muss lachen, weil ich ursprünglich gefragt wurde, ob ich vor Ort arbeiten kann, damit der Bundestag noch einmal eine große Arbeit ankaufen kann und vielleicht zwei, drei kleine. So fing es an. Dafür gab es einen Vertrag. Als aber dann nach Wochen der Kunstbeirat sah, was da alles passiert, hieß es ganz schnell: „Oh, das Projekt müsste verlängert werden.“ Nun wird es wohl so kommen, dass der Bundestag mehr Arbeiten ankaufen wird, die dann auch im öffentlichen Raum hängen.
Vorhin hatten Sie erwähnt, dass Ihre hier entstandenen Bilder keine politische Arbeit sind und Sie bewusst versuchten, allem Inhaltlichen gegenüber neutral zu bleiben. Wenn Sie jetzt in der Zeitung über Entscheidungen der Parlamentarier lesen, laufen bei Ihnen dann andere Filme ab als früher?
Ja, natürlich. Wenn ich die Nachrichten sehe, kann ich das alles räumlich genau zuordnen. Die Aufmerksamkeit für dieses Gebäude werde ich sicher lange in mir tragen. Und es freut mich auch, dass die Ausstellung in der Abgeordnetenlobby stattfindet, weil dort wirklich jeden Tag auch die Abgeordneten wählen, in den dortigen Wahlkabinen.
Haben Künstlerkolleginnen oder ‑kollegen von Ihnen auf das Projekt irgendwie besonders reagiert?
Ich muss sagen, dass ich schon seit vielen Jahren gar nicht so was Großes daraus mache. Ich bin nach außen eigentlich sehr still und ziehe mich eher zurück, um die Arbeit auch gut machen zu können – denn darum geht es ja, sich mit einer Sache intensiv zu beschäftigen.
Zum Stichwort »Abgrenzung« – haben Sie künstlerische Vorbilder, hat sich das im Laufe der Zeit verändert oder verflüchtigt?
Eigentlich eher nein, ich habe keine Vorbilder im eigentlichen Sinne. Natürlich habe ich immer mal Dinge gesehen, die ich toll fand, es gibt auch viele Künstler, die ich sehr, sehr schätze, aber ich hole mir meine Inspiration tatsächlich eher von Flohmärkten oder Schrottplätzen.
Also mehr vom Objekt.
Vom Objekt, ja. Ich mache mir keine Gedanken über mögliche Vorbilder. Ich muss jetzt auch nicht ins Museum gehen, um Inspirationen zu bekommen. Ich habe da einen ganz festen Standpunkt, weil ich weiß: Man muss sich alles selber erarbeiten. Deshalb ist es für mich persönlich sehr wichtig, dass man das Zeichnen erlernt. Dieses Schauen ist wichtig, dieses wirklich Sehen lernen. Und dann entstehen durch das Arbeiten immer mehr Ideen, und durch die Ideen kommt man ins Machen und so läuft das immer weiter. Und das jetzt seit über 20 Jahren.
Vielen Dank.
Marion Eichmann studierte an der Universität der Künste Berlin und der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Längere Arbeitsaufenthalte führten sie nach Tokio, New York und Istanbul. Besondere Aufmerksamkeit erhielt 2017 ihre Rauminstallation Laundromat auf der art KARLSRUHE und im Haus am Lützowplatz/IG Metall-Haus, Berlin. 2019 wurde ihr der Kunstpreis Münsterland überreicht.
Cornelie Kunkat ist Referentin für Frauen in Kultur und Medien beim Deutschen Kulturrat.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022