Die Bibliothekarin Barbara Lison im Porträt
Von Andreas Kolb
„The Librarian who reads, is lost“ hat einmal ein Bibliothekar aus der British Library im 19. Jahrhundert gesagt. Mit diesem Zitat bringt Barbara Lison das Problem aller Leseratten, Literaturliebhaber und überhaupt aller Wissenschaftler auf den Punkt: Kein Mensch kann jemals alle geschriebene Literatur in seiner Lebensspanne auch nur annähernd lesen. Dennoch gibt es sie, die besessenen, die unermüdlichen, die leidenschaftlichen Leser, die sich von der Überfülle nicht abschrecken lassen, sondern immer wieder aufs Neue der Faszination Lesen erliegen. Dann gibt es noch die ganz Unerschrockenen, die sich der Vermessung und Archivierung des menschlichen Wissens verschrieben haben, die Bibliothekare. Zu diesen zählt zweifellos die Leitende Bibliotheksdirektorin der Stadtbibliothek Bremen, Barbara Lison, die im Februar zur designierten Präsidentin der International Federation of Library Associations and Institutions, kurz IFLA, gewählt wurde.
2021 bis 2023 wird Lison der IFLA – einer Internationalen Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen – dann selbst als Präsidentin vorstehen. Die IFLA setzt sich weltweit dafür ein, Bibliotheken in die politische Diskussion einzubringen und den Stellenwert von Bibliotheken auch politisch festzumachen. Die bisherige Präsidentin, Glòria Pérez-Salmerón aus Barcelona, hatte für ihre Amtszeit das Motto „Bibliotheken sind die Motoren für den Wechsel“, die aktuelle Präsidentin von 2019 bis 2020, Christine Mackenzie aus Australien, das Thema „Let’s work together“. Mackenzie ist dafür zuständig, im Rahmen eines internen diskursiven Prozesses eine neue Organisationsstruktur für den Weltverband zu entwickeln. Welche Themen-Schwerpunkte die IFLA-Präsidentin Lison 2021 bis 2022 auf ihre Agenda schreiben wird, ist noch offen. Aber sie sagt: „Ich bin mir sicher, dass wir in zwei Jahren völlig neue Herausforderungen sehen werden. Wir fragen dann womöglich, was bedeutet das Thema Künstliche Intelligenz (KI) für die Arbeit der Bibliotheken und auch für die Bibliothekarinnen und Bibliothekare und was bedeuten die Bibliotheken im Kontext von KI.“
Obwohl von klein auf mit Büchereien und Bibliotheken vertraut, kam Barbara Lison über Umwege zu ihrem Traumjob. Mit dem Ziel „Lehramt“ studierte sie Slawistik, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Doch Ende der 1980er Jahre wurden praktisch keine Lehrerinnen und Lehrer mehr eingestellt. Nach dem Referendariat begann Lison zwangsläufig, sich nach beruflichen Alternativen umzuschauen. Hilfreich waren ihr ihre Vorerfahrungen als wissenschaftliche und studentische Hilfskraft für den Bibliotheksbestand der historischen Bibliothek des Lehrstuhls für Südosteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass sie bereits Anfang des Jahrzehnts einen „Fortran“-Kurs gemacht hatte, der EDV- Sprache der 1980er Jahre. „Ich beriet mich mit einem der Fachreferenten der Universitätsbibliothek in Bochum, der auch für Südosteuropäische Bestände verantwortlich war. Dazu kaufte ich noch ein Buch ‚Alternativen für Geisteswissenschaftler‘. Naja, und da bin ich dann auf diesen höheren Bibliotheksdienst gestoßen.“
Barbara Lison wurde 1956 in Zbrosławice, Polen, geboren, lebte aber nur bis zum zweiten Lebensjahr dort, bevor die Familie nach Düsseldorf zog. „Ich bin nicht zweisprachig aufgewachsen, weil meine Familie, als sie dann in Deutschland war, größten Wert darauf gelegt hat, dass man Deutsch war. Ich habe mich dann aber selbst für Osteuropa interessiert. Es war die Zeit der Willy Brandt’schen Ostverträge und der langsamen Öffnung des Eisernen Vorhangs. Das hat mich fasziniert.“ Da es immer ihr eigentliches Ziel gewesen sei, in den diplomatischen Dienst zu gehen, schließt sich nun der Kreis durch ihre zukünftige Tätigkeit als Präsidentin des Weltverbandes – im Kern auch eine Art diplomatischer Dienst.
„Bibliotheken sind gelebte Demokratie“, davon ist Barbara Lison überzeugt und schneidet damit das zentrale Thema kultureller Bildung an: „Demokratie lebt von Entscheidung für eine bestimmte politische Richtung. Ich kann mich nur für eine politische Richtung entscheiden, wenn ich auch die andere(n) kenne. Bibliotheken sollen alle Spektren aller Einstellungen präsentieren in der Literatur und dem Angebot, das sie vorhalten. Früher behauptete ich, Bibliotheken sind neutral. Das tue ich heute nicht mehr. Eine Bibliothek ist eine sehr stark auf demokratischer Basis beruhende Einrichtung. Sie ist dann nicht mehr neutral, sondern demokratisch orientiert.“ Als zentraler Ort in der Stadtgesellschaft steht die Bibliothek heute vor neuen Chancen und Herausforderungen. Waren Stadtbüchereien in der Vergangenheit Curricula für ganze Generationen, dann haben sie sich heute gegen eine Vielzahl digitaler Mitbewerber zu behaupten. Die Digitalisierung dürfe man jedoch auf gar keinen Fall verteufeln, stellt die Chefin der Bremer Stadtbibliothek fest. In der Bücherei von heute gäbe es nicht nur bedrucktes Papier. Man müsse eine Programm-Mischung finden, die für unterschiedliche Altersgruppen interessant sein kann. „Es geht heute nicht länger um Ausleihe oder Rückgabe: Animation und Vermittlung sind wichtige Momente. Die Mitarbeiter der Bremer Stadtbibliothek werden speziell darauf trainiert – etwa in der Akademie in Remscheid – Inhalte zu animieren. Jede Bibliotheksführung wird so zu einem Theaterstück mit unterschiedlichen Requisiten: vom Plüschtier über Handpuppen bis zu Tablet und Buch. Wir fangen mit den Schoßkindern an, allein diese stellen 5.000 bis 6.000 Teilnehmer im Jahr. Unsere Beschäftigten gehen in Stadtteile, die sozial schwieriger sind, aber auch in Stadtteile, die sozial konsolidiert sind.“
Eigentlich eine perfekte Bibliothek, die bremische. Doch die „Wunschbibliothek“ von Lison geht nochmals anders: „Meine Wunschbibliothek ist offen für Veränderungen, die sich aus der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung heraus ergeben. Es gibt architektonisch wunderschön gestaltete Bibliotheken, die sich aber nicht weiterentwickeln können, weil sie in ihrer Hülle festgelegt sind. Die Frage ist: Wie bewegt man Räume dazu, sich Veränderungen anzupassen? Als ein gelungenes Beispiel gilt die neue Bibliothek in Helsinki, die viele große Flächen hat und schnell verändert werden kann. Als Bibliothekarin richte ich Punkte ein, wo die Menschen sich treffen können, ihre gewünschten Online-Daten bekommen können, wo sie kommunizieren können und in Arbeitsgruppen arbeiten.“
Noch ein Wunsch: „Ich brauche eine wichtige politische Entscheidung in unserem Lande. Diese Entscheidung heißt: Änderung des Arbeitszeitgesetzes, sodass Stadtbibliotheken am Sonntag geöffnet sein können. Das treibt mich seit 20 Jahren um.“ Und Lison hat Erfahrungswerte: Sechs Sonntage war in Bremen die Bibliothek geöffnet. Nach dem Grund ihres Besuches gefragt, antwortete ein Viertel der Besucher: „Damit ich sonntags nicht allein bin, sondern unter Menschen.“ Zudem waren doppelt so viele Männer zwischen 25 und 45 vertreten als unter der Woche. Lison verweist auf alternative Arbeitszeitmodelle wie in den skandinavischen Ländern, doch hierzulande bleiben die Gewerkschaften stur. In Abwandlung des legendären Gewerkschaftsslogans „Samstags gehört Papa mir“ müsste man heute sagen „Sonntags darf mein Papa mit mir in die Bibliothek gehen.“
Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10|2019.