Wir spüren es alle: Die altbekannten, verlässlichen Leitplanken in unserer Gesellschaft werden spröde. Die Bindungen an Parteien, Kirchen, Gewerkschaften lassen nach. Innerer Halt und Orientierung müssen neu definiert werden. Das ruft Populisten und Radikale auf den Plan.

Im neuen, dem 21. Deutschen Bundestag, ist die AfD stärker denn je. Und deren erklärtes Ziel ist es, die heutige deutsche Gesellschaft zu verändern. Sie spaltet durch Hass und Hetze. Da überrascht es nicht, dass ein neuer MdB dieser in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei, Matthias Helferich, das sogenannte »freundliche Gesicht des NS«, gleich am ersten Tag seiner Mitgliedschaft im Parlament ankündigte, er werde in den Kultur-ausschuss gehen …!

So bitter es ist: Wer eine Gesellschaft verändern möchte, legt den Fokus natürlich nicht auf das Bruttoinlandsprodukt oder auf das Autobahnnetz, sondern der geht ans Nervengeflecht unseres Gemeinwesens, der geht an die Kultur. Das hat die AfD leider begriffen. Die Kulturtradition stiftet nationale Identität. Und eben die soll verändert werden.

So wie das Bundesverfassungsgericht müssen wir daher auch unser Kulturleben resilient machen, es vor Feinden schützen – durch ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz.

»Der Staat schützt und fördert die Kultur« – das ist scheinbar so selbstverständlich bundesrepublikanische Realität, dass Kritiker eines neuen Staatsziels Kultur und einer entsprechenden Verfassungsänderung auf die schöne puristische Kargheit der Sprache unseres Grundgesetzes verweisen. Die Verankerung von Kultur als Staatsziel führe zu seiner Überfrachtung oder gar Entwertung des GG-Textes. Doch ohne Staatsziele ist das Grundgesetz schon in seiner jetzigen Gestalt nicht: Aus gutem Grund verpflichtet es uns auf das Prinzip der Sozialstaatlichkeit. Unbestreitbar ist dies ein Fundament unseres Gemeinwesens und gerade in diesen Krisenzeiten als Leitbild staatlichen Handelns wichtig.

Nachdem die »natürlichen Lebensgrundlagen« und der »Tierschutz« als Staatsziele in den 1990er Jahren in das Grundgesetz aufgenommen wurden, ist die Frage nach der Relevanz zusätzlicher Staatsziele verständlich.

Aber: Anders als bei den anderen möglichen neuen Staatszielen geht es bei der Kultur nicht um die Ansprache einzelner Gesellschaftsbereiche, sondern um das fundamentale Selbstverständnis der Nation. Kultur ist unsere geistige Lebensgrundlage. Sie trägt maßgeblich zur Bildung nationaler Identität bei. Wir in Deutschland sollten uns dessen besonders bewusst sein, denn Deutschland war zuerst eine Kultur-, dann eine politische Nation.

Zum kulturellen Leben eines Landes gehört nicht allein das kulturelle Erbe, sondern dazu gehört vor allem das Neue, die Avantgarde. Damit diese möglich wird, schützt und fördert der Staat die Freiheit von Kultur und Wissenschaft. Im Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es: »Kunst und Wissenschaft sind frei.« Hier drückt sich eine Lehre aus den Abgründen der Diktatur aus, die Überzeugung nämlich, dass es die Kreativen sind, die Vordenker, die Geistesgrößen einer Gesellschaft, die diese vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen im Stande sind. Dies aber können sie nur, wenn der Staat sie unabhängig macht von Zeitgeist und Geldgebern und ihnen Freiraum zur Entfaltung sichert. Und der Staat tut dies auch, zwar mit nur rund 1,8 Prozent aller öffentlichen Haushalte, aber doch mit nachhaltiger Wirkung: Deutschland, das Land der Dichter und Denker, ist nach wie vor das Land mit der höchsten Theaterdichte der Welt, und das gilt ganz genauso für Museen, Orchester, Literaturhäuser, Archive, Bibliotheken und Festivals.

Damit dies so bleibt, damit die Kultur und die Künste sich in Freiheit als kritisches Korrektiv in unserer demokratischen Gesellschaft behaupten können, muss sich der Staat in einer dienenden Haltung auf die Formulierung günstiger Rahmenbedingungen beschränken, vor allem in rechtlicher und auch in finanzieller Hinsicht. Einflussnahme auf ästhetische Prozesse oder die Vorgabe eines Kanons verbieten sich. Doch eben dies ist ausdrückliches Ziel der AfD, die künstlerischen Prozessen misstraut und klar definiert, welche Art Kunst und Kultur sie im Falle exekutiver Verantwortung fördern würde. Das ist gefährlich, denn schon das Ansinnen legt die Axt an die zentralen Mechanismen unserer freiheitlichen Gesellschaft.

Denn eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Anspruch religiöser Wahrheiten respektierte, die das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die gar einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben. Denn nur in einem Klima geistiger Freiheit und Offenheit gedeihen die Selbstheilungskräfte der Demokratie gegen das Gift rechtspopulistischer Sprache, Erzählungen und Denkmuster: Widerworte, Zweifel und der zivilisierte Streit sind fundamental in einer freien Gesellschaft.

Dagegen nehmen Versuche, das Sag- und Zeigbare einzuhegen in Grenzen, die sich aus einer persönlichen Weltanschauung ergeben, den Künsten ja auch einen Teil ihrer heilsamen Macht. Deshalb sollten wir im Rahmen geltender Gesetze die Spannungen aushalten zwischen der Freiheit des Wortes, der Freiheit der Kunst, der Freiheit der Meinung einerseits und den damit möglicherweise verbundenen persönlichen Kränkungen andererseits – im Bewusstsein, dass Kränkungen ebenso wie Unklarheiten, Missverständnisse und das Umgehen mit Unzulänglichkeiten der Preis für die Freiheit der Kultur sind. Denn wir brauchen sie, die mutigen Dichter und Denker, die streitbaren Künstler, die unbequemen Kreativen – damit sie uns den Spiegel vorhalten und als kritisches Korrektiv eine Gesellschaft vor Lethargie, vor gefährlicher Bequemlichkeit und letztlich auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen bewahren.

Es setzt eine souveräne Haltung voraus, wenn wir unbequeme Künstler, Denker, Institutionen schützen wollen vor Anfechtungen durch eine übergriffige Politik. Noch gilt diese Souveränität in unserem Gemeinwesen. Aber die Gefahren, die Freiheiten dieser Milieus einzuschränken, lauern in Kommunen und Ländern, die hoheitlich für Kultur und Wissenschaft zuständig sind und in denen die Rechtspopulisten mitwirken, unübersehbar.

Deshalb wäre ein Staatsziel Kultur in der Verfassung, wie es die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages empfohlen hat und das viele Kulturpolitiker unterschiedlicher Parteien befürworten, kein folgenloser Verfassungsschnörkel, sondern ein solches Staatsziel wäre ein klares Bekenntnis zu den Wertegrundlagen unserer Gesellschaft. Und mit einem Staatsziel Kultur würde im Übrigen auch das kollektive Bewusstsein für den Wert der Kultur gestärkt.

Nicht erst in der aktuellen Spardebatte und angesichts rechtsradikaler völkisch-nationaler Anwandlungen auch hierzulande bin ich daher mehr denn je eine Befürworterin eines solchen Staatsziels Kultur im Grundgesetz, wo es heißen müsste: »Der Staat schützt und fördert die Kultur.«

Angesichts der überragenden Bedeutung der Kultur für das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland sollte sich der Staat explizit in seiner Verfassung dazu bekennen.

Text und Bild sind zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/25.