Menschenrechte nach Hause bringen
Beate Rudolf
Das Herzstück des Grundgesetzes sind die Grundrechte. Als Reaktion auf die Menschheitsverbrechen des NS-Regimes stehen sie am Anfang des Verfassungstextes. Damit verdeutlichen sie: Der zentrale Zweck des Staates ist es, dem Menschen zu dienen. Er ist dabei rechtlich gebunden. Die Grundrechtsverbürgungen beginnen mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde und den Menschenrechten. Dadurch weist das Grundgesetz über sich hinaus: auf die dem Staat vorausliegende Würde jedes Menschen, die nicht vom Staat zugesprochen wird, sondern jedem Menschen kraft seines Menschseins zukommt, und auf die völkerrechtlich verankerten Menschenrechte. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes ließen sich bei ihren Beratungen sogar über die zeitgleich laufenden Verhandlungen für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte informieren, um sicherzustellen, dass der Verfassungstext im Einklang mit den international anerkannten Menschenrechten steht.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese enge Verbindung von grundgesetzlich garantierten Grundrechten und internationalen Menschenrechten gestärkt. Nach seiner ständigen Rechtsprechung sind die Grundrechte auch im Lichte der Menschenrechte auszulegen. So soll verhindert werden, dass deutsches Verfassungsrecht gegen die völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechte verstößt. Der Grund für diese Rechtsprechung liegt in der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes, also seiner Offenheit für das Völkerrecht – auch dies eine Reaktion auf die NS-Herrschaft, die das Völkerrecht mit Füßen trat.
Grund- und Menschenrechte sind nicht statisch. Ihre völker- und verfassungsrechtlichen Gewährleistungen sind – in den Worten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – „lebendige Instrumente“, die auch neue Gefährdungen etwa infolge gesellschaftlicher oder technischer Entwicklungen erfassen. Sie gelten beispielsweise auch für die staatliche Regulierung sozialer Medien, für die Digitalisierung oder den Umgang mit der Klimakrise. Regierungen, Parlamente, Verwaltungen und Gerichte müssen also wissen, wie internationale Gerichte und unabhängige Überwachungsgremien die Menschenrechte inhaltlich fortentwickelt haben.
Doch im Alltag aller Staatsgewalten ist es – aus unterschiedlichen Gründen – eine Herausforderung, die Menschenrechtsentwicklung auf internationaler Ebene kontinuierlich zu beobachten und diese Erkenntnisse in das eigene Handeln einzuspeisen. Deshalb bekannten sich die Staaten auf der Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte 1993 dazu, innerstaatlich jeweils eine unabhängige Institution zu schaffen, die die Menschenrechte „nach Hause bringt“. Diese Nationale Menschenrechtsinstitution soll durch Beobachtung der Menschenrechtslage, Berichterstattung und Beratung auf die Beachtung und Verwirklichung der Menschenrechte im eigenen Land hinwirken.
In Deutschland wurde deshalb im Jahr 2001 auf einen einstimmigen Beschluss des Deutschen Bundestages hin das Deutsche Institut für Menschenrechte gegründet. Es berät auf der Basis anwendungsorientierter Forschung die Politik in Bund und Ländern in grund- und menschenrechtlichen Fragen, etwa durch Stellungnahmen in Gesetzgebungsverfahren. Durch Berichte zu einzelnen Themen und durch seinen jährlichen Menschenrechtsbericht an den Bundestag weist das Institut auf Probleme hin. Es beteiligt sich an den menschenrechtlichen Überwachungsverfahren und setzt sich für die Umsetzung ihrer Handlungsempfehlungen ein. So wirkt es darauf hin, dass Menschenrechtsverletzungen in Deutschland beendet und verhindert werden.
Die internationalen Menschenrechte stärken den Blick auf benachteiligte und marginalisierte Menschen und schützen sie vor der Tyrannei und der Gleichgültigkeit der Mehrheit. Sie verlangen die Abschaffung der segregierten Sonderwelten für Menschen mit Behinderungen in der Schule, bei der Arbeit und dem Wohnen. Sie verpflichten dazu, die Ursachen für Diskriminierung anzugehen, etwa institutionellen und strukturellen Rassismus oder Sexismus. Kinderrechte stellen sicher, dass Behörden und Gerichte Kinder anhören, wenn sie Entscheidungen treffen, die Kinder betreffen. Menschenrechte verlangen zudem, dass es wirksame Beschwerde- und Klagemöglichkeiten gibt.
Anders als die meisten Nationalen Menschenrechtsinstitutionen in anderen Ländern hat das Deutsche Institut keine spezifischen Befugnisse: Es kann keine Klagen erheben oder von Regierungen und Parlamenten Antworten erzwingen. Es verfügt allein über die Macht des Wortes. Deshalb ist es – wie das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – darauf angewiesen, dass alle Amtsträger in Bund und Ländern sich ihrer Verpflichtung zur Beachtung der Grund- und Menschenrechte bewusst sind und sie ernst nehmen. Das geschieht nur, wenn die Bevölkerung dies einfordert. Eine solche Kultur der Menschenrechte muss immer wieder gestärkt werden. Dazu braucht es ein vertieftes Verständnis der Menschenrechte und die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen, Privilegien und Vorurteilen. Kunst bietet die Chance, die Perspektive zu wechseln und menschenrechtliche Solidarität zu wecken.
Beate Rudolf ist Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/24.