Andreas Kolb
Es gibt nicht sehr viele Webseiten aus den Anfangszeiten des World Wide Web, die seit einem Vierteljahrhundert online sind. AVIVA-Berlin.de ist ein solches „Brett“ im Netz, um das die Suchmaschinen nicht herumkommen. Stichworte, mit denen man ganz sicher auf AVIVA stößt, sind Feminismus, jüdisches Leben in Deutschland, Antisemitismus, Gewalt gegen Frauen, aber auch Informationen zu Literatur, Kultur und Politik.
„Geschlechter-Ungerechtigkeiten, Equal Pay, all das wollte ich mit jüdischen Themen verbinden“, sagt die Journalistin und Fotografin Sharon Adler, Gründerin und Chefredakteurin des feministischen Online-Magazins. Das Netz war ihr nicht weiblich genug, die herkömmlichen Frauenmagazine und deren „Beauty und Fashion“-Ausrichtung zu schmalspurig, und so hatte sie 1999 ihr eigenes Magazin entwickelt. Adlers Zielgruppe waren und sind „politisch, wirtschaftlich und (multi-)kulturell interessierte Frauen“. Das Magazin hat Rubriken wie „Women +Work“, „Veranstaltungen in Berlin“, „Kunst + Kultur“, „Public Affairs“ und „Jüdisches Leben“. Zur Bedeutung des Titels AVIVA sagt Adler: „Aviva ist ein Palindrom, das sich von hinten nach vorne gleich lesen lässt. Es ist Hebräisch und heißt Frühling. Tel Aviv heißt übersetzt ‚der Frühlingshügel‘.“
Sharon Adler zählt zur Zweiten Generation von Überlebenden nach der Shoah. Sie kam 1962 in Berlin zur Welt, wohin ihre Mutter nach Flucht- und Überlebensstationen in den Niederlanden, in einem Lager für displaced persons in Berlin Schlachtensee, in Haifa und später, nach ihrer Rückkehr aus Israel zurückgekehrt war. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden. In den Sommerferien besuchte sie regelmäßig ihre Großmutter in Haifa. Seit 1983 lebt Sharon Adler wieder in Berlin, der ursprünglichen Heimatstadt ihrer Familie.
Ende der 1990er Jahre war Sharon Adler als Gründerin von AVIVA-Berlin.de Pionierin, heute würde man sie vielleicht Aktivistin nennen: eine, die sich für die Sichtbarmachung von Frauenbiografien, für interkulturelle Verständigung und gegen Antisemitismus einsetzt. „Was mir wichtig war und wichtig ist: diesen beschränkten Blick auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu weiten. Egal ob im Geschichtsunterricht, im Kunstunterricht, im Musikunterricht und überhaupt im öffentlichen Leben, man begegnet nur selten Geschichten, die auch von heute lebenden Jüdinnen und Juden erzählen. Das wollte ich ändern.“
Spätestens nach dem Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ 2021 ist es ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass Judentum und jüdische Menschen in Deutschland gewirkt haben und mit großen Anteilen zur Entwicklung des Landes in verschiedensten Bereichen wie Medizin, Forschung, Kultur, Politik und Gesellschaft beigetragen haben. „Nirgends kam die Lebensgeschichte von Bertha Pappenheim vor“, das nimmt Adler als ein Beispiel für viele, „die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes. Oder die liberale Sozialreformerin Alice Salomon, die maßgeblich an der Entwicklung der allgemeinen Frauenrechte in Deutschland beteiligt war und nach Flucht und Vertreibung vergessen in Brooklyn/New York starb. Das wissen bis heute die wenigsten. Das hat mich einfach genervt.“
Gleich zu Beginn hatte das Online-Magazin viel Presse und bis heute gibt der Erfolg Adler recht. „Es ist ein Herzensprojekt, wie alles, was ich tue.“ In den Anfangszeiten der AVIVA-Berlin.de, ihre Tochter war damals noch ganz klein, musste dazugearbeitet werden, bei einer Presseausschnitt-Agentur etwa oder auch als Fotografin. Später erweiterten sich ihre Tätigkeitsfelder, heute ist sie außerdem als Moderatorin tätig, wie jetzt am 11. Dezember bei einer ganztägigen Fachtagung in Berlin zum Thema „Lehrkräfte gegen Antisemitismus stärken“ oder vor Kurzem bei dem Symposium „Macht und Ohnmacht – Von Machtlosigkeit, Resilienz und Selbstermächtigung“ des Leo Baeck Institutes – New York | Berlin.
Sharon Adler schreibt nicht nur fürs eigene Magazin, sondern auch für andere Medien, unter anderem Kommentare fürs Politische Feuilleton im Deutschlandfunk Kultur. Immer geht es ihr dabei um eine Sichtbarmachung jüdischer Themen. „Ich habe einfach den Drang das auszusprechen, wenn es heute zum Beispiel um die Entsolidarisierung von sogenannten queer-feministischen Gruppen mit den Jüdinnen in Deutschland und den Menschen in Israel geht, die am 7. Oktober 2023 Opfer wurden von sexualisierten Gewaltverbrechen. All das versuche ich über alle möglichen Kanäle in meiner Arbeit sichtbar zu machen.“
Im Jahr 2012 startete Adler ein Projekt, das jüdische Frauen aus aller Welt dazu einlud, Biografien jüdischer Frauen in Berlin zu schreiben: „Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin – Writing Girls“. Es ging darum, die Vielfältigkeit jüdischen Lebens und des Judentums in Berlin zu zeigen und Frauen zu porträtieren, die zu Unrecht vergessen waren. Die Autorinnen des Projekts kamen aus der ehemaligen Sowjetunion, Israel, Frankreich, Chile und den USA. Die entstandenen Artikel wurden auf AVIVA-Berlin.de veröffentlicht.
Acht Jahre später wurde die freie Journalistin und Fotografin Mitherausgeberin der Reihe „Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven“, die seit 2020 im Deutschland Archiv Online der Bundeszentrale für politische Bildung erscheint. Sharon Adler: „Ich führe das Projekt gemeinsam mit Anja Linnekugel, Referentin Fachbereich Print/Redaktion Deutschland Archiv, durch. Sie ist die Initiatorin des Projekts und hat mich als Jüdin Ende 2019, nach dem Anschlag in Halle an Yom Kippur und mit Blick auf das Jubiläumsjahr ‚100 Jahre Frauenwahlrecht‘ dazu eingeladen, dieses Projekt mit ihr zu gestalten und herauszugeben. Und weiter: „Im Rahmen der Reihe sind Aufsätze von Historikerinnen und weiteren Wissenschaftlerinnen sowie Interviews mit Zeitzeuginnen verschiedener Epochen/Generationen/Herkunftsländer veröffentlicht bzw. geplant. Unser Ziel ist es auch, Situation, Herausforderungen der Jüdinnen in Deutschland nach 1945 nach ihrer Rückkehr aus der Emigration, den Lagern oder dem Versteck und das Engagement und die Situation dieser Generation und ihrer Nachkommen mit Blick auf die Töchter und Enkelinnen bis heute sichtbar zu machen. Außerdem ist geplant, diese Texte später als Buch innerhalb der Schriftenreihe der bpb zu publizieren.“
Sharon Adler ist seit 2013 ehrenamtliche Vorsitzende der „Stiftung Zurückgeben“, einer Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft, die sich seit 1994 einerseits für die Rückgabe in der NS-Zeit enteigneter Wertgegenstände von Jüdinnen und Juden engagiert und andererseits jüdische Frauen mit Stipendien fördert, um Projekte wie Filme, Literatur oder Forschungsarbeiten zu realisieren. Die „Stiftung Zurückgeben“ wird zu Adlers Bedauern bis heute nicht institutionell gefördert und ist ausschließlich auf Spenden angewiesen.
Woher nimmt Sharon Adler die Energie und den Mut für ihre unbequeme und fordernde Arbeit? Vielleicht daher, dass sie auch anderen Themen gegenüber nicht abgeneigt ist, dass sie neben der serious side auch ihre easy side lebt. Im Bildband »Damenwahl. Frauen und ihre Autos« beleuchtet Sharon Adler etwa das spannende Verhältnis von 40 Fahrerinnen zu ihren mobilen Gefährten: „Ich habe Frauen kennengelernt, die hatten zwei Autos oder sogar mehr. Wie die Unternehmerin und Rallyefahrerin Heidi Hetzer natürlich. Aber ich habe zum Beispiel auch eine Jette Joop getroffen, von der ich vorher gar nicht wusste, dass sie mal in Los Angeles Car Design studiert hat. Sie steuerte einen super-feministischen Text über die fehlenden Frauen in der Formel 1 bei.“
Aktuell arbeitet Sharon Adler gemeinsam mit der Künstlerin Shlomit Lehavi und der Provenienzforscherin Ulrike Saß in dem Projekt „Sichtbarmachen – Spuren jüdischen Engagements im MdbK“ daran, die Namen und Geschichten von wegweisenden Leipziger jüdischen Akteurinnen und Akteuren und ihr zivilgesellschaftliches Engagement in das Museum der bildenden Künste Leipzig und das öffentliche Bewusstsein zurückzubringen. Dazu recherchiert sie zu jüdischen Sammlerinnen und Sammlern, zu Mäzeninnen und Mäzenen sowie zu Künstlerinnen und Künstlern im Umfeld des MdbK. 2025 ist Ausstellungseröffnung.
Für das Jahr 2025 konzipiert Sharon Adler aktuell einen Podcast. Mehr wird an dieser Stelle noch nicht verraten.
Text und Bild sind zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/24.