Julia Grosse im Gespräch
Vor zehn Jahren gründete Julia Grosse gemeinsam mit Yvette Mutumba das digitale Kunstmagazin Contemporary And (C&), seitdem haben beide weitere C&-Formate ins Leben gerufen und wurden unter anderem als Europäische Kulturmanagerinnen des Jahres 2020 ausgezeichnet. Theresa Brüheim spricht mit Julia Grosse über die Entwicklung von C& und ihre Perspektive auf zukunftsgewandtes Kulturmanagement.
Theresa Brüheim: Sie sind Gründerin, Kulturmanagerin, Kuratorin, Lehrende … Worauf legen Sie bei der Vielzahl der Tätigkeiten den Fokus?
Julia Grosse: Ich bin zweigleisig in die Kulturarbeit eingestiegen: Ich habe Kunstgeschichte studiert und gleichzeitig journalistisch gearbeitet. Ich habe mich früh entschieden, innerhalb meiner Arbeit im Kulturbereich Kunstkritik und Medien zusammenzubringen. Das war für mich passend.
In London, wo ich mehrere Jahre gelebt und vor allen Dingen auch als Kunstkritikerin tätig war, habe ich mit C& angefangen: einem Kunstmagazin, gegründet von Yvette Mutumba und mir, initiiert vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa). Am Anfang stand die Idee, eine Plattform zu schaffen, die künstlerische Positionen aus Afrika und der globalen Diaspora sichtbarer macht. Wir haben 2013 damit angefangen, wir feiern dieses Jahr also unser zehnjähriges Jubiläum. Wir werden in Berlin, New York, Nairobi, São Paolo und in der Karibik feiern – Orten, an denen wir unsere Netzwerke aufgebaut haben. Diese Arbeit an und mit Contemporary And (C&) hat mich sehr geprägt.
Ich hatte und habe die Möglichkeit, global Netzwerke aufzubauen und künstlerische sowie kulturelle Perspektiven miteinander zu verbinden, die sich sonst eher nicht begegnet wären. Das verstehe ich persönlich auch als die Arbeit einer Kulturmanagerin: Wie bringt man Positionen zusammen, um etwas Neues zu schaffen oder um etwas Existierendes zu erweitern?
C& ist eine internationale Plattform, die eine Sichtbarkeit für Perspektiven, Künstlerinnen und Kuratoren aus Afrika und der globalen Diaspora schafft. Wie hat sie sich im Laufe dieser zehn Jahre entwickelt?
Von Anfang an war es wichtig, diese Positionen miteinander zu vernetzen. Denn diese Vorstellung: „Eine Malerin aus Nairobi kennt eine Kuratorin in Südafrika kennt den Performer aus Paris“ ist ein Klischee. Afrika ist ein enorm großer Kontinent. Dementsprechend gibt es nicht „die Kunst aus Afrika“, sondern unzählige Perspektiven. Das Vernetzen und Sichtbarmachen dieser Perspektiven lief immer parallel und ist vielleicht auch das Geheimnis des Erfolges. Denn es gab natürlich schon viele wichtige Plattformen vor uns, die diesen Fokus hatten. Aber die waren nicht so stark aufs Digitale ausgerichtet wie wir. Das war uns von Anfang an sehr wichtig: Wir wollten die Distributionsgrenze von einem physischen Magazin überwinden. Unsere Inhalte sollen überall erreichbar und zugänglich sein. Dank der Förderung des ifa und anderer haben wir keine Paywalls etc. Und so komplex unsere Inhalte auch sind, wir ermutigen die Autorinnen und Autoren, die Texte verständlich zu formulieren. Wir sind kein knallhartes akademisches Journal, sondern versuchen, für eine breite Leserschaft Inhalte zu schaffen. Wir haben viele Leserinnen und Leser in den USA, aber auch Nigeria, Südafrika, Brasilien, Deutschland oder Frankreich.
In den letzten zehn Jahren haben wir jedoch den Kosmos extrem erweitert: Wir haben mit C& América Latina ein weiteres Magazin gegründet, und jenseits unserer Arbeit im Digitalen machen wir viel im Analogen. Unter anderem bieten wir kritische Schreibworkshops für junge Schreibende an, vor allen Dingen auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in den USA oder in Südamerika. So wollen wir einer neuen Generation an Schreibenden einen Raum bieten. Auch haben wir einen physischen kritischen Leseraum, der durch Institutionen wie Museen wandert – gerade war er in Hongkong, jetzt ist er in New York und Berlin – und sich im weitesten Sinne mit den Spuren des Kolonialismus beschäftigt. Denn natürlich hat auch die Wall Street mit Kolonialismus zu tun. Oder Mode oder Kochen. Entsprechend ist der Leseraum mit einem sehr breiten Repertoire an Büchern ausgestattet, die das Thema zugänglich machen. So sollen möglichst viele Menschen ermutigt werden, sich mit den anhaltenden Spuren des Kolonialismus auseinanderzusetzen. Dieser Aspekt der Zugänglichkeit treibt mich auch in meiner sonstigen kulturellen Arbeit an.
Wer schreibt für C&?
Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben renommierte Kunstkritikerinnen und Kunstkritiker aus Kapstadt, die auch für Kunstmagazine wie „Frieze“ schreiben. Wir haben junge Stimmen, wir haben Künstlerinnen und Kuratoren, die für uns schreiben. Das ist gar nicht so klar festzumachen. Was u. a. daran liegt, dass wir nicht vor allem „inhouse“ Inhalte produzieren wie viele Magazine. Auch haben wir keinen in eine feste Form gegossenen Stil. Es gibt bei uns verschiedene Formen und Arten, kritisch über Kunst zu schreiben. Auch wir mussten lernen, dass in Kampala ein Autor eine Rezension anders schreibt als eine Autorin, die in Kairo sitzt. Es geht außerdem darum, dass dann nicht zu bewerten – im Sinne unseres Feuilletons, in dem man so und so schreibt. Wir mussten also selbst unsere eigene Feuilletonbrille ablegen. Was unsere Texte verbindet, ist nicht ein einheitlicher Schreibstil, sondern die ganz eigenen Stimmen der Autorinnen und Autoren aus den jeweiligen Regionen – und ihre diversen Perspektiven.
Der Zugang zu Sprache und zum Schreiben ist natürlich auch kulturell bedingt.
Eine andere Perspektive, ein anderes Kulturverständnis prägt natürlich auch die Sprache und den Schreibstil. Das stimmt. Unsere kritischen Schreibworkshops finden immer in Zusammenarbeit mit erfahrenen Schreibenden aus dem jeweiligen lokalen Kontext statt. Das ist uns wichtig. Es soll nicht darum gehen, z. B. nach Nairobi zu kommen und zu zeigen, wie man unseres Erachtens im Feuilleton schreibt oder eine Kunstkritik erstellt. Außerdem geht es uns um die Nachhaltigkeit dieser Workshops: Drei Tage Arbeit in einer kleinen Gruppe sind nicht viel, darum haben wir ein sechs- bis zwölfmonatiges Mentoringprogramm auf die Beine gestellt. Dabei findet auf digitalem Wege one-to-one ein Austausch zwischen den jungen und erfahrenen Journalistinnen und Journalisten statt, bei dem monatlich ein Text produziert wird. Das hat sich als sehr fruchtbar erwiesen.
2020 wurden Sie gemeinsam mit Yvette Mutumba zur Europäischen Kulturmanagerin des Jahres ausgezeichnet. Welche Bedeutung hat die Auszeichnung für Sie, aber auch für Ihre Arbeit?
Das hat uns selbstverständlich sehr gefreut. Natürlich hat unsere Arbeit dadurch eine höhere Sichtbarkeit gefunden und eine verstärkte Würdigung erhalten. In den Vorjahren wurden unter anderem die Manifesta-Leiterin Hedwig Fijen und die Chefin von der Tate, Frances Morris, ausgezeichnet.
Der Preis würdigt Kulturmanagerinnen und Kulturmanager. Das ist auch wichtig, da vor allem im deutschen Raum falsche Erwartungen an diese Tätigkeit bestanden: Wie managt man Kultur? Ist es überhaupt notwendig, Kultur zu managen?
Für mich ist Kulturmanagement, wie gesagt, die Möglichkeit, unerwartete Perspektiven an einen Tisch zusammenzubringen und Netzwerke zu schaffen. Und wenn dann aus einem Projekt eine kulturelle, nachhaltige Struktur entsteht, dann ist es für mich erfolgreich.
Was macht eine gute Kulturmanagerin aus?
Der Begriff Management hat erst mal etwas Kommerzielles. Für mich bedeutet er aber vielmehr: Wie kann ich diese Sichtbarkeit als Kulturmanagerin nutzen, um Strukturen oder Institutionen mit Erfahrung zu unterstützen? Inwiefern kann man Institutionen unterstützen, ihren Blick zu erweitern – nicht nur was die Programmarbeit angeht, sondern auch bezüglich der Fragen, wer in den Büros sitzt und die Strukturen vertritt?
Es gibt nach wie vor viele Leerstellen. Nehmen wir das Beispiel Museum, ich bin ja auch assoziierte Kuratorin am Gropius Bau. Auf Museen lastet im Allgemeinen gerade ein enormer Druck – auf verschiedensten Ebenen. Museen sollen nachhaltig, niederschwellig, global und vieles mehr sein. Doch so eine Transformation braucht Zeit, mehrere Jahre. Als Kulturmanagerin empfiehlt es sich, diesen Weg begleitend mitzugehen, und ich sehe mich als Kulturmanagerin vor allem als Connecterin und Möglichmacherin von Ideen, die immer auch strukturell sind.
So müssen sich Kultureinrichtungen heute vielmehr an einer Gleichzeitigkeit von Besucherperspektiven ausrichten, um die Vielfalt und Vielheit der Gesellschaft abbilden zu können. Ich denke, künftig müssen wir wieder mehr den Aspekt des Aushaltens in den Fokus nehmen, vielleicht sogar eine positive Chance darin sehen. Beispielsweise muss man einfach akzeptieren, was junge Leute an Kultur interessiert oder eben nicht interessiert. Vielleicht findet deren Kulturkonsum vor allen Dingen im Digitalen oder auf dem Smartphone statt. Aber auch was sich jeder und jede Einzelne unter „guter Kunst“ vorstellt, muss man respektieren. Selbst wenn es nicht der eigene Geschmack ist.
Ich liebe diese großen Kulturzentren, in denen eine tatsächliche Gleichzeitigkeit der Besucherperspektiven stattfindet: Schon am Vorplatz findet man mobile Stände mit Essen aus diversen Ländern, auf der einen Seite gibt es ein Blockbuster-Kino, an anderer Stelle kann man z. B. ein elektronisches Avantgarde-Konzert besuchen. Am Eingang muss man sich erst einmal durch eine Gruppe von Kindern schieben, die von Kulturvermittlerinnen angeleitet werden. Solche Orte kenne ich aus England oder Frankreich. Hier müssen sich plötzlich ganz verschiedene Menschen miteinander beschäftigen, arrangieren, sich regelrecht durcheinander durcharbeiten und diese Gleichzeitigkeit aushalten. Genau da wird es für mich spannend. Genau dieses Zusammenkommen von Gesellschaft interessiert mich.
Vielen Dank.
Julia Grosse ist Kunsthistorikerin, Gründerin von Contemporary And (C&), lehrt am Institut für Kunst im Kontext an der UdK und ist assoziierte Kuratorin am Gropius Bau in Berlin. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5|23.