Petra Eisele
Heute sind Grafik-Designerinnen im Studium sowie im Berufsleben gut vertreten. Verglichen mit ihren männlichen Kommilitonen oder Kollegen sind sie häufig sogar in der Überzahl. Werden Listen von Rederinnen und Rednern auf Konferenzen oder Jurys von Designwettbewerben aber genauer betrachtet, lassen sich gegenteilige prozentuale Verhältnisse feststellen. Bezogen auf die Sichtbarkeit der gestalterischen Leistungen von Frauen sind einschlägige Grafik- und Typografie-Kompendien besonders aussagekräftig. Hier sind Frauen, was historische wie aktuelle Nennungen betrifft, auffallend stark unterrepräsentiert. Diese Prozentzahlen sind erschütternd, werfen aber auch Fragen auf: Warum existiert eine derartige Marginalisierung von Frauen im Grafik-Design? Warum sind ihre Arbeiten nur schemenhaft sichtbar und entsprechend schwach oder überhaupt nicht im Kanon der Designgeschichte vertreten? Welche weiblichen Role Models gibt es für junge Gestalterinnen heute? Was können wir für mehr Geschlechtergleichheit tun? Wo sind die Frauen im Grafik-Design geblieben? Eingebunden in aktuelle feministische Diskurse und intersektionale Fragestellungen nimmt das BMBF-Forschungsprojekt UN/SEEN zwei Zeiträume in den Blick: zum einen die frühe Emanzipationsbewegung mit den Anfängen des professionellen Grafik-Designs im Zeitraum von 1865 bis 1919 in Deutschland, zum anderen aktuelle internationale Tendenzen im Bereich Typografie und Schriftgestaltung.
Das Projekt betritt in vielerlei Hinsicht Neuland; besonders jedoch in der designhistorischen Grundlagenforschung, mit der die Situation weiblicher Gebrauchsgrafikerinnen im Kontext der frühen Emanzipationsbewegung detailliert aufgearbeitet wird. Recherchen in zahlreichen staatlichen Sammlungen und Archiven sowie in privaten Nachlässen, aber auch in historischen Zeitschriftenbeständen und Publikationen führten zur Rekonstruktion von mehr als 300 meist unbekannten Namen, Viten und Arbeitsbeispielen: Anzeigen, Verpackungen, Reklamemarken, Firmen- bzw. Markenzeichen, Exlibris, Plakate, Illustrationen, Layouts für Bücher oder Magazine und Schriftgestaltung. Anhand konkreter Beispiele konnte so aufgezeigt werden, dass und wie es Frauen gelungen ist, sich aus dem gesellschaftlich bereits akzeptierten Zeichnen sukzessive erfolgreich zu emanzipieren.
Auch heute noch ist Chancengleichheit in Ausbildung und Beruf Kern sozialpolitischer Forderungen, wobei Gender und soziale Herkunft eine zentrale Rolle spielen. Um die Leistungen verschiedener Milieus sichtbar zu machen, berücksichtigt UN/SEEN intersektionale Aspekte im Verhältnis von Gender und Klasse. Entsprechend sind die konkreten Arbeitsbedingungen und -möglichkeiten für Frauen im Druck- und Buchgewerbe sowie in Schriftgießereien von Interesse. Hier macht das Projekt erstmals nicht nur die bislang unbekannten anonymen Frauenarbeiten mitsamt ihren schlechten Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten sichtbar (historisches Gender-Pay-Gap), sondern arbeitet auch weibliche Emanzipationsstrategien in der frühen Gewerkschaftsbewegung auf.
Damit macht UN/SEEN die anonyme Arbeit von Frauen sichtbar, zeigt aber auch frühe Strategien weiblicher Emanzipation. Es macht auch diejenigen Frauen sichtbar, die sich im neu aufkommenden Berufsfeld der Gebrauchsgrafik etablieren konnten und zu Lebzeiten bekannt und anerkannt waren. Damit kritisiert UN/SEEN letztlich die traditionelle, Frauen weitestgehend ausklammernde Designgeschichtsschreibung und schreibt sie durch genderorientierte Grundlagenforschung neu – auch um die zeitgenössischen Designdiskurse entscheidend zu erweitern.
In diesem Sinne schlägt das Projekt mit dem hybriden »SEEN – Around the World-Symposium« auch einen Bogen zu Grafik-Designerinnen heute. Vom 9. bis 11. April 2025 präsentieren und diskutieren in Mainz über 30 international renommierte Gestalterinnen ausgehend von ihrer Praxis die Situation von Frauen in Type-Design und Typografie – bis heute ein männlich dominierter Bereich des Grafik-Designs. Im Zentrum stehen dabei globale ästhetische und gestalterische Diskurse sowie technologische Entwicklungen wie Digitalität oder KI. Anhand ihrer gestalterischen Arbeiten gelingt nicht nur eine Reise einmal um die Welt, sondern durch Ausstellungen, Vorträge, persönliche Interviews und Gespräche vor Ort auch ein tiefer Einblick in die Zukunft des Designs.
Die Kombination von designhistorischer Forschung bezogen auf Grafik-Design (Petra Eisele, Aliena Guggenberger) und forschenden Gestalterinnen (Isabel Naegele, Julia Neller) erzeugt neue Forschungsperspektiven und stellt eine Besonderheit des Projektes dar.
Text und Bild sind zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/25.