In der Kunst wie im Leben ist es gut, wenn regelmäßig das Abseitige in die Mitte der Aufmerksamkeit gerückt wird. Doch das geschieht selten. Manchmal aber gibt es Wunder zu bestaunen. Wie zum Bespiel jetzt, wo die Deutschen endlich Alda Merini kennenlernen können. In Italien wird diese Dichterin seit Langem verehrt. Milva hat eine Reihe ihrer vertonten Gedichte in viele Ohren gesungen, so dass sie im Herzen Anker fanden. Zugleich steht Merini für ein schreckliches Kapitel der Medizingeschichte. Viele Jahre musste sie in psychiatrischen „Heil“-Anstalten verbringen – vor den Reformen der 1970er Jahre.

Mehrere Menschen haben versucht, Alda Merini (1931-2009) in Deutschland bekannt zu machen. Ich erhielt den Anstoß von der (damaligen) Theologiestudentin Magdalena Bredendiek, die in Rom studiert hatte, Milvas Lieder kannte und ihre Examensarbeit über die religiöse Dimension von Merinis Lyrik schrieb, die ich als Zweitkorrektor zu beurteilen hatte. Das bescherte mir ein theo-poetisches Bildungserlebnis. Bredendiek unterstützte den Radio-Essayisten Burkhard Reinartz, der im vergangenen Jahr ein einstündiges Feature mit wunderbaren O-Tönen aus Merinis Heimatstadt Mailand produziert hat: „Die Pistole an meiner Schläfe heißt Poesie“ (in der WDR-Audiothek zum Nachhören.). Sodann erschien zur letzten Frankfurter Buchmesse eine zweisprachige Ausgabe ihrer Gedichte: „Die schönsten Gedichte schreibt man auf Steine“, übersetzt von Christoph Ferber. Damit ist die Geschichte des Merini-Wunders noch nicht zu Ende. Denn jetzt gibt es eine Übersetzung ihre Notate aus der Psychiatrie. Daran ist mehreres erstaunlich. Zum einen der Herausgeber: Der Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci, der auch über Milvas Lieder zu Merini gekommen war, nahm sich neben der politischen Arbeit die Zeit, einen guten Übersetzer, nämlich Marco Grosse, und einen passenden publizistischen Ort zu finden, nämlich die Reihe „Psychiatriehistorische Vignetten“ im Verlag Psychiatrie und Geschichte, die von Thomas Müller betreut wird, seinem Ko-Herausgeber. „Die andere Wahrheit. Tagebuch einer Andersartigen“ ist ein wunderschönes Buch geworden: Leineneinband, ein eindrucksvolles Porträt der alten, wie stets rauchenden Merini auf dem Cover, gutes Papier, feines Druckbild. So ehrt man eine große Autorin.

Merinis Texte aus der Psychiatrie sind erschütternd. Sie sind aber auch von hoher literarischer Qualität. Manchmal zieht ein dunkel-märchenhafter Ton durch ihre Beschreibungen der Entmenschlichung. Ihre Erkrankung lässt sich mit heutigen Begriffen nicht fassen, vielleicht kommt man ihr mit einer „bipolaren Störung“ am nächsten. Aber das ist zweitrangig. Denn das eigentliche Problem ist nicht Merinis Störung, sondern der Gewaltapparat, dem sie und ihre Mitpatienten unterworfen wurden. Sie waren weniger Patienten als Häftlinge: ohne Privatsphäre und Achtung ihrer Persönlichkeit, zur Untätigkeit verdammt, regelmäßig Opfer von Gewalt, auch sexuell. Sie wurden Elektroschocks ausgesetzt und mit Medikamenten vollgepumpt, deren Nutzen unklar war: „Zu Beginn meiner Einweisung war ich voller Bewusstsein über meine Wirklichkeit. Die Abwesenheit und Verwirrung kamen später, in Folge der Pharmaka und der ständigen Beschimpfungen der Krankenpfleger und durch das Ambiente selbst.“ Als entwürdigend muss Alda Merini es auch erlebt haben, von ihrem Psychiater mit hochspekulativen Diagnosen behelligt zu werden. Statt auf die Patientin zu schauen, drückte er ihr in freudianischer Unart frühkindliche Penis-Probleme auf – die Schuldgeschichte des Freudianismus müsste auch mal geschrieben werden. Wie klar und vernünftig wirkt dagegen, was Merini selbst über ihr seelisches Leiden sagte: „Ich wünsche mir, dass die Geisteskrankheit endlich entzaubert und wieder dem Ursprung zurückgeführt wird, der darin besteht, dass es sich um eine Störung der Emotionalität handelt.“ Merinis Notate führen in eine vergangene Welt. Sich an sie zu erinnern, ist aber heute sehr wichtig. Denn, wie zurzeit vielerorts zu beobachten, können Zivilisationsgewinne schnell verloren gehen.

Johann Hinrich Claussen

Text und Bild sind zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/25.