Oliver Scheytt
Die Europameisterschaft im Frauenfußball hat im Juli 2022 gezeigt: Frauen spielen anders Fußball als Männer. Das Spiel ist mindestens genauso spannend und auf andere Weise filigran und elegant. Das Regelwerk unterscheidet sich anders als früher nicht mehr von dem für den „Männerfußball“. Doch immer noch kämpft der Frauenfußball um gesellschaftliche Anerkennung, und die Bezahlung der Spitzenkräfte ist nicht angemessen, gerade auch im Vergleich zu den männlichen Profis.
Gibt es auch bei der Personalgewinnung von Führungskräften in Kunst und Kultur geschlechtsspezifische Unterschiede? Offenbar gilt das gleiche „Regelwerk“ bei der Personalauswahl, ob es sich um männliche, weibliche oder diverse Führungskräfte handelt. Zudem lässt sich empirisch belegen, dass inzwischen Führungspositionen in Kunst und Kultur immer häufiger weiblich besetzt werden; so ist die absolute Zahl und der prozentuale Anteil etwa der Intendantinnen, Museumsdirektorinnen, Kulturdezernentinnen und Kulturamtsleiterinnen in den letzten zwei Jahrzehnten sehr stark angestiegen, wenn auch noch immer mehr männliche als weibliche Personen Führungspositionen bekleiden. Die gesellschaftliche Anerkennung von weiblichen Führungskräften in Kunst und Kultur hat sich nach vielen Jahren der „Aufklärung“ zwar insgesamt zum Besseren gewandelt. Nach wie vor besteht aber immer noch ein gewisses Defizit in der Wahrnehmung der andersartigen, meist positiven Wirkung weiblicher Führungskräfte. Die Erfahrung lehrt, dass Frauen häufig eine andere, vor allem stärker teamorientierte und ausgeprägter motivierende Führungskultur bewirken als Männer, die sich indes oft besser selbst als Führungspersönlichkeit „in Szene“ zu setzen vermögen.
Das Spannungsfeld zwischen Gremien und Individuen
Personalentscheidungen und Personalgewinnung in Kunst und Kultur sind ein komplexer Vorgang mit zwei Seiten: Auf der einen Seite agieren die für eine Auswahl entscheidenden Verantwortlichen der jeweiligen Trägerinstitutionen. Und auf der anderen Seite gibt es die Bewerberinnen und Bewerber, die an einer Führungsposition interessiert sind, sich indes auch gegen eine Position entscheiden (können). Der Abgleich von Anforderungsprofilen und Kandidatenprofilen erfolgt dabei von beiden Seiten, und so stoßen Kollektiv und Individuum aufeinander.
Verantwortliche Trägerorganisationen arbeiten fast immer mit Kollektiven bei der Personalauswahl. Insbesondere im Bereich der öffentlichen Hand sind dafür Gremien verantwortlich wie Vorstände, Kuratorien, Kulturausschüsse, Aufsichtsräte etc. Auch die von etwaigen Entscheidungsgremien eingesetzten Auswahl- oder Findungskommissionen sind ihrerseits mit Personen besetzt, die in der Regel sehr unterschiedliche Sichtweisen und mitunter auch Interessen mitbringen.
Aufseiten der Kulturorganisation bedarf jede Personalentscheidung der intensiven Situations-, Umfeld- und Institutionsanalyse und einer Klärung der Verantwortlichkeiten sowie der zahlreichen Schnittstellen, die eine Führungskraft in ihrer Rolle wahrzunehmen hat. In den Kompetenzprofilen, die mit dem Anforderungsprofil abgeglichen werden, spielen daher insbesondere bei den fachlichen Kenntnissen und Erfahrungen immer auch objektivierbare Kriterien eine Rolle.
Subjektivität und Werthaltungen
Doch gibt es eine Reihe weiterer Kriterien und Faktoren, die stärker von Subjektivität und Individualität geprägt sind. Dies gilt insbesondere für die Frage, wie geführt werden soll und kann und welche Persönlichkeit die gewünschten Führungskompetenzen mitbringt. Die jeweiligen Aspekte spielen eine entscheidende Rolle unabhängig von der Frage, ob eine Position mit einer weiblichen oder männlichen Führungskraft besetzt wird oder werden soll. Daher werden zunächst diese generellen Gesichtspunkte reflektiert.
Von grundlegender Bedeutung dafür ist, ob sich die Führungskraft mit den „Idealen“ der jeweiligen Kulturorganisation identifizieren kann. Es erscheint daher sehr sinnvoll, die Werthaltung der Kandidatinnen und Kandidaten im Auswahlverfahren zu eruieren. Dazu ist es hilfreich, sich die Handlungslogik bewusst zu machen, die der jeweiligen Kulturinstitution innewohnt. Im Grundsatz lassen sich drei bestimmende Handlungslogiken unterscheiden: (1) Handelt es sich um einen öffentlichen Kulturbetrieb, so geht es um die Realisierung eines öffentlichen Auftrages und die Umsetzung von kulturpolitischen Zielsetzungen. (2) Bei einer privat-/gemeinnützigen Kulturorganisation spielt die Solidarität unter den Akteurinnen und Akteuren eine entscheidende Rolle. (3) Demgegenüber ist der privat-/kommerzielle Kulturbetrieb auf Profit ausgerichtet. Bei der Auswahlentscheidung ist daher der Frage nachzugehen, ob die für die Leitung zu gewinnende Persönlichkeit eine mit der jeweils prägenden Handlungslogik korrelierende Grundhaltung mitbringt.
Auf Arbeitgeberseite gibt es allerdings deutliche Differenzen zwischen den drei Sektoren: Während bei der öffentlichen Hand das Gender-Pay-Gap aufgrund der Tarifgebundenheit weniger relevant erscheint, ist dies in den anderen beiden Sektoren leider noch zu oft vorhanden.
Häufig ist es ein Ziel der Personalauswahl, eine eigenständige, starke, damit möglicherweise sogar polarisierende Persönlichkeit zu gewinnen, um für eine optimale Wirkung der Kulturorganisation zu sorgen. Dies führt dazu, dass die jeweilige Entscheidung für die verantwortlichen Kollektive sehr diffizil ist. Diese bedürfen nämlich eines möglichst breiten Konsenses für ihre Entscheidung auch angesichts der Individualität der Gremienmitglieder. Zu dieser schon per se gegebenen Komplexität der Auswahlentscheidung tritt dann noch die von Individualität und Subjektivität beeinflusste Wahrnehmung von Auswahlkriterien hinzu, wie Führungskompetenz, Diversität und Gendergerechtigkeit, individuelle Werthaltungen und Interessen, spezifische Persönlichkeitsmerkmale etc.
Personalauswahl und -entscheidung werden also in von Subjektivität und Komplexität gleichermaßen geprägten Konstellationen getroffen. Umso verwunderlicher ist, dass Entscheidungen mitunter nach nur einem einstündigen Auswahlgespräch gefällt werden. Eminent wichtig ist es, allen Beteiligten genug Raum und Zeit für ihre Abwägungen zu geben, was intensiver, vertiefter Gespräche mit den bestgeeigneten Kandidatinnen und Kandidaten bedarf. Außerdem ist es für eine valide Einschätzung der Führungskompetenzen sehr wichtig, dass die Kommissionen divers besetzt sind, um die unterschiedlichen Sichtweisen auf eine Person zu mobilisieren und sich darüber intensiv auszutauschen.
Erfahrungen aus der Praxis
Meine Erfahrung aus vielen hundert Besetzungsverfahren ist indes, dass es gerade bei den Besetzungen der öffentlichen Hand in aller Regel gelingt, Kompetenzen unabhängig vom jeweiligen Geschlecht weitgehend objektiv einzuschätzen. Dazu trägt bei, dass meist auch auf eine gendergerechte Zusammensetzung des Auswahlgremiums geachtet wird. Doch hängt es letztlich immer auch von den jeweiligen Einstellungen der Gremienmitglieder ab, ob männlich oder weiblich, welchen Stellenwert Gendergerechtigkeit bei der Letztentscheidung hat.
Nicht immer gelingt es indes, generell eine Atmosphäre zu schaffen, die von Wertschätzung geprägt ist. Das fängt bei der Sitzordnung an und hört längst noch nicht bei der oft nur rudimentären Information der Bewerberinnen und Bewerber über das Ergebnis von Vorstellungsgesprächen auf. Auf diesem Feld ist – wie Kandidatinnen und Kandidaten berichten – sehr viel „Luft nach oben“ …
Gerade aufgrund des auch in Kunst und Kultur sich stärker abzeichnenden Fachkräftemangels ist die Attraktivität einer Kulturinstitution als Arbeitgeber von hoher Relevanz. Diese hängt nicht nur für weibliche Führungskräfte letztlich entscheidend davon ab, ob eine „Work-Life-Balance“ garantiert werden kann, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einschließt.
Zusammenfassend lassen sich fünf Thesen formulieren:
- In der Führung einer Kulturorganisation sind die Themen Personalgewinnung, -entwicklung und -fortbildung fest zu verankern und die dafür erforderlichen Ressourcen zu verstärken.
- Führungskräfte in Kulturbetrieben sollten sich durch Know-how im Per sonalmanagement auszeichnen, ob weiblich oder männlich, und sich unbedingt der Thematik „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ widmen.
- Die Potenziale, die weibliche Führungskräfte mitbringen, sind gerade auch für das Personalmanagement von Kulturinstitutionen sehr wertvoll.
- Es sollte künftig intensiver erörtert und bewusst gemacht werden, welche Stärken eine von weiblichen Sichtweisen und Erfahrungen geprägte Führungskultur aufweist.
- Die Anerkennung der Fähigkeiten weiblicher Führungskräfte sollte sich auch in gleicher Bezahlung in allen Kultursektoren niederschlagen.
Anzustreben ist insgesamt eine Grundhaltung bei den für Besetzungsverfahren Verantwortlichen: Gesucht werden sollten Persönlichkeiten mit Wandelmut statt mit Wankelmut. Und für die Verantwortlichen sollte es eine Selbstverständlichkeit sein und keiner besonderen Courage bedürfen, eine herausfordernde Führungsposition mit einer weiblichen Führungskraft zu besetzen.
Oliver Scheytt ist geschäftsführender Gesellschafter der Personalberatungen Kulturexperten und Kulturpersonal sowie Professor für Kulturpolitik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
Dieser Text ist Teil des Dossiers „Frauen in Führung“. Die einzelnen Beiträge des Dossiers werden durch Illustrationen prägender Frauen aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart begleitet.