Cornelia Schleime über ihr künstlerisches Schaffen in Ost und West
Poetisch und radikal – das Wortpaar beschreibt nicht nur Cornelia Schleimes Bilder, sondern auch ihre Haltung zur Kunst selbst. Für sie ist nichts schlimmer als Langeweile, Fleißarbeit oder Glattheit. In der DDR erhielt sie Berufsverbot, die Ausreise folgte. Als die Mauer fiel war Schleime Stipendiatin in New York. Heute hängen ihre Werke in Museen und Galerien weltweit. Mit Hans Jessen spricht sie über ihre Kunst in multiplen Ausdrucksformen, ihren Werdegang in der DDR, die künstlerische Verwertung ihrer Stasi-Akte und den Vertrauensbruch ihres Berliner Galeristen.
Hans Jessen: Frau Schleime, Sie sind eine international bekannte Gegenwartskünstlerin mit multiplen Ausdrucksformen: Sie malen, zeichnen, schreiben Gedichte und Romane, machen Filme, haben in einer Punk-Band gesungen, obwohl Sie – Eigenaussage – nicht singen können. Was steckt dahinter? Bedeutet Ihnen die Eigenständigkeit von Genres nichts?
Cornelia Schleime: Sie bedeutet mir etwas. Ich bin vom Leben getrieben. Das, was mir künstlerisch wichtig ist, kommt durch das Leben selbst. Diskrepanzen, Erfahrungen, Enttäuschungen, Freuden. Wenn eine Geschichte, die mich innerlich bewegt, zu komplex ist, kann ich sie nicht in Malerei umsetzen. Malerei soll für mich eine klare, sinnlich erfahrbare Sache sein, da können nicht so viele Ebenen übereinandergeschichtet werden.
Also keine große intellektuelle Auseinandersetzung. Dafür muss ich eben einen Roman schreiben. Je nach der Struktur einer Sache, die mich bewegt, finde ich das Medium. Gesungen habe ich, weil ich in der DDR Ausstellungsverbot hatte. Was sollte ich machen, wenn ich nicht ausstellen durfte? Ich versuche, eine Aussage auf den Punkt zu bringen, und muss das jeweilige Medium dafür finden.
In dieser Bandbreite machen das nicht so viele Künstler. Warum Sie?
Ich bin sehr unruhig. Ich bin eine Suchende, immer auf der Suche nach mir selbst und daher auf der Suche nach unterschiedlichen Ausdrucksformen. Für mich wäre es ganz furchtbar, eine Sache, die im Kopf schon klar ist, noch abzuarbeiten. Dafür wäre ich viel zu faul. Wenn sich ein Bild auf der Netzhaut schon abgebildet hat, brauche ich es nicht mehr zu malen. Ich bin eine Forschungsreisende zu mir selbst. Dabei ist jedes Mittel recht. Nichts ist schlimmer als Langeweile oder Fleißarbeit. Ich will mich durch alles, was ich mache, selbst überraschen. Ich male alle Bilder in erster Linie für mich.
Sie haben in der DDR Friseurin gelernt, Maskenbildnerin, auch Pferdepflegerin gehört zum Werdegang – ab wann war Ihnen bewusst, dass Sie Künstlerin werden wollten?
Naturwissenschaftliche Glanzleistungen habe ich in der Schule nicht erbracht. Aber ich konnte zeichnen. Als Einzelkind habe ich mich immer zurückgezogen. Ich habe gezeichnet, mit 15 erste Gedichte für meinen damaligen Freund geschrieben. Ich habe sehr früh in meiner eigenen Welt gelebt und wusste als 14-Jährige, dass ich irgendwas mit Kunst machen würde. Vor dem Abitur hatte ich Schiss, aber Maskenbildnerstudium – mit Friseurlehre als Vorstufe – das hatte wieder etwas mit Zeichnen zu tun. Während dieses Studiums sagte meine Lehrerin, dass sie mich eher in der Klasse Grafik bzw. Malerei sehen würde.
Ich habe also Maskenbildnerei unterbrochen – der Parfüm- und Pudergestank war mir sowieso zuwider – und vor dem Kunststudium ein Jahr als Pferdepflegerin gearbeitet; da habe ich dann nach Pferd gestunken.
Ihr Kunststudium in Dresden endete damit, dass Sie nicht ausstellen durften. Das war Anfang der 1980er Jahre. Sie haben einen Ausreiseantrag gestellt. Hat bei Ihnen die Biermann-Ausbürgerung von 1976 eine Rolle gespielt? Oder war es allein Ihre biografische Erfahrung?
Es war meine persönliche biografische Erfahrung. Aber Biermann spielte schon eine Rolle: In jeder Klasse sollten möglichst alle unterschreiben, dass wir für die Biermann-Ausweisung wären. Ein jugoslawischer Kommilitone und ich waren die Einzigen der Klasse, die sich verweigerten. Obwohl uns Ärger angedroht wurde, bis hin zum Rausschmiss aus dem Studium. Die Radikalität: Meine Unterschrift kriegt ihr nicht, habe ich von meinem Vater.
Der eigentliche Grund für meinen Ausreiseantrag waren Ausstellungserfahrungen, z. B. in einem kleinen Museum. Ich habe damals mein Kind bekommen, aber das Studium weiter durchgezogen. Die Modelle, nach denen wir zeichneten, kamen zu mir nach Hause – abends, da waren sie schon müde. So hab ich sie dann in Radierungen gezeigt. Positionen wie von Rodin mit melancholischem Ausdruck. In diese Ausstellung kam die Parteileitung und hat meine Bilder von der Wand gerissen mit dem Satz: „So sieht die Frau im Journalismus nicht aus.“ Mein Berufsverbot begann mit einer weiteren Ausstellung. Dafür hatte ich 1.000 Postkarten mit Zebra-Abbildungen übermalt – es war eine Auseinandersetzung mit Arnulf Rainer. Ich wollte mit den Übermalungen für jedes Zebra einen neuen Raum schaffen. Zur Eröffnung sollte dort ein lebendes Zebra stehen. Mit dieser Arbeit wollte ich mich um die Aufnahme in den Verband bildender Künstler bewerben. Der Tierpark wäre einverstanden gewesen, aber die Aktion wurde nicht genehmigt. Zu dieser Zeit hatte ich schon mit Körperaktionen begonnen: Mich nackt mit Draht eingewickelt wegen der Enge oder mich mit schwarzer Farbe bemalt. Ich wurde vorgeladen. Die Funktionäre sagten, das sei Müllkunst. Ich antwortete, das ist keine Müllkunst, sondern Performance, ein erweiterter Kunstbegriff.
Ich war gar nicht politisch, hatte aber einen Hang zum Surrealen und Absurden. Das war denen schon zu viel. So wurde mir schnell klar, dass ich aus diesem Osten raus muss.
Der Maler und DDR-Kulturfunktionär Willi Sitte übernahm diesen verächtlichen Begriff „Müllkünstlerin“. War es eine Genugtuung, als in späteren Ausstellungen über „DDR-Kunst“ Ihre Arbeiten neben denen Sittes hingen und als künstlerisch relevanter gewertet wurden?
Bei diesen Nach-DDR-Ausstellungen wurde ich gefragt: „Wie kann man denn neben dem Sitte hängen?“ Ich sage: Mir wäre es lieber, er würde noch leben und wäre zur Ausstellungseröffnung nach Düsseldorf gekommen. Ich bin nicht frustriert oder nachtragend. Ich bin ein Elefant, der lange warten kann. Gern hätte ich mit einem Glas Rotwein angestoßen und gesagt: „Sehen Sie mal, Herr Sitte, jetzt hängen wir hier zusammen.“ Viele DDR-Künstler haben die Befindlichkeit: „Wir wollen nicht ausstellen mit denen, die uns verboten haben.“ Meine Meinung: Ganz im Gegenteil – gerade mit denen müssen wir ausstellen, um einer jungen Generation diese Bildwelten zu öffnen. Erst wenn man auch das Angepasste sieht, begreift man, wie viel Kraft es kostete, nicht angepasst zu sein. Ich kann mich doch nicht nur in Ausstellungen des Untergrunds wiederfinden. Eine andere Generation kann sich dann doch kein Bild machen, wogegen der Widerstand eigentlich gerichtet war.
Als die Mauer fiel, lebten sie als Stipendiatin in New York. Was war anders, als sie anschließend nach Berlin zurückkamen? Einer ihrer – ebenfalls in den 1980er Jahren ausgebürgerten – Künstlerkollegen, Hans-Hendrig Grimmling, sagte mal: „Ich bin mit vollem Risiko aus dem System raus – und plötzlich kommen die, die sich damals nicht getraut haben, hinterher“. Hatten Sie ähnliche Empfindungen?
1986 gab es in Westberlin die „Malstrom“-Ausstellung von Künstlern, die die DDR verlassen hatten oder rausgeschmissen worden waren. Der Katalog wanderte auch zu Künstlern in den Osten. 1989 dachten viele: „Wunderbar, der Westen ist interessiert, wir kommen und setzen uns ins gemachte Nest.“ Denen war nicht bewusst, was für eine harte Zeit es nach der Ausreise für uns war: Mit nichts im Westen anzukommen, oft ohne Bilder – mein ganzes Frühwerk war ja weg – solche Verluste mussten kompensiert werden. Außerdem war der Westen nach dem Mauerfall völlig überfordert von dieser Schwemme an DDR-Malern, die auch deswegen kaum Fuß fassen konnten. Es war eine wahnsinnige Desillusionierung von Künstlern, die nun rüberkamen und dachten, sie würden mit offenen Armen empfangen. Der Westen zeigte sich aber genervt, fand die Malerei der DDR zu behäbig, mit ihrer Düsternis, mit ihrer in die Vergangenheit gerichteten Metaphernwelt der Fallenden, Stürzenden und Sisyphusse. Der Westen war auf einer anderen Schiene, der Konzeptkunst. Und nun kommt eine Malerei an, die nicht richtig in die Zeit passt. So fiel für diese Künstler feiner Staub auf die Illusion einer zügigen Selbstverwirklichung unter neuen Bedingungen. Die, die vor dem Mauerfall ausgereist waren, hatten einen Vorsprung. Wir hatten alles hinter uns gelassen, es gab kein Zurück mehr, keinen Kompromiss. Es war unser Vorteil, die wir vorher gegangen waren, uns zu öffnen, auch gegenüber der Postmoderne. Wir mussten Ausdrucksformen finden, damit dieser Bruch, der über Jahre ging, in unsere Kunst einfließt. Die Künstler der DDR, die nicht ausgereist waren, steckten formal in ihren Bildwelten noch zu sehr in der DDR fest.
Für sie interessierten sich nur wenige Galerien im Westen. Schlussendlich finden sich heute viele von ihnen in Galerien der ehemaligen DDR wieder, die nach wie vor hauptsächlich ehemalige DDR-Künstler vertreten.
Manche verarbeiten das dadurch, dass sie den Westen als „nur modern und gar nicht innerlich, nicht existenziell und nur marktorientiert“ disqualifizieren. Darin steckt auch ein Selbstbetrug. Schade finde ich, dass diese Künstler in größeren Zusammenhängen nur mit Arbeiten aus DDR-Zeiten gezeigt werden, immer dann wenn Jahrestage sind.
Die Inhalte Ihrer Stasi-Akte haben Sie als Material für eine Serie grafischer Arbeiten genommen, in der Sie den paranoiden Unsinn dieser Berichte bloßstellen. Souveränitätsgewinn nicht durch die leidende Opferrolle, sondern durch Persiflage. Dem Ministerium für Staatssicherheit haben Sie für diese „Materialvorlagen“ auch noch sehr ironisch gedankt.
Für mich hat Kunst mit Befreiung zu tun. Sie dient dazu, einen neuen Weg zu gehen und das Alte hinter sich zu lassen. Als ich diese Berichte über mich las, reagierte ich mit Selbstinszenierungen, die die Akten persiflieren. Die Fotos der Selbstinszenierungen habe ich mit rauskopierten Aktennotizen collagiert. Eine total politische Arbeit. Ich habe bewusst nicht die Berichte eines prominenten Spitzels wie Sascha Anderson ausgewählt, sondern solche Berichte, die etwas mit der „Blockwartmentalität“ zu tun hatten – als Beobachtungsform eine sehr deutsche Angelegenheit: „Die Schleime ist unordentlich“ und solche Dinge. Die Serie wurde erstmals auf einer Kunstmesse ausgestellt. Da kamen Westkünstler und sagten: „Das ist ja ne geile Arbeit – woher hast du denn die Texte?“ In dem Moment wurde mir ein Unterschied klar: Wie der Westen sich Dinge entleiht, um eine peppige Sache zu machen, während es bei mir mit der eigenen Biografie zusammenhängt.
Ich würde keine Bilder machen über Menschen, die als Flüchtlinge auf Booten kommen. Ich könnte hinfahren und ihnen helfen. Aber ich entleihe mir solche Ereignisse nicht für meine Kunst, um mit dem Elend anderer auch noch Geld zu verdienen. Das ist für mich ein Verbot.
Sie sind eine weltweit anerkannte Künstlerin, auch materiell so erfolgreich, dass Sie sich aussuchen können, wo Sie leben und arbeiten. Und dann ist es doch wieder Prenzlauer Berg in Berlin und ein Atelierhaus in Brandenburg. Warum?
Prenzlberg ist Berlin, ich brauche die Stadt. Wenn ich da bin, rede ich wie ein Wasserfall und bin ein sehr geselliger Mensch. Von Berlin aus reise ich zu Ausstellungen und mache dort auch kleine Papierarbeiten.
Aber ich brauche auch das Gegenteil, die Einsamkeit. Für die Arbeit an großen Bildern ist Berlin zu hektisch. Da ziehe ich mich aufs Land zurück. Ich brauche die Einsamkeit, weil ich mit mir selbst so viel zu tun habe. Manche fragen, wenn der November kommt: „Wirst du hier nicht depressiv?“ Ganz im Gegenteil – das ist für mich die Hoch-Zeit. Ich könnte ein Jahr im Wald leben, ohne mit jemandem reden zu müssen.
Bei mir hat der liebe Gott wohl die Mitte vergessen. Ich brauche die Extreme. Das moderate: einen Tag so und den anderen so – das kann ich nicht. Gilt übrigens auch für die Kunst: Ich kann keine mittleren Formate. Entweder ganz klein – oder sehr groß.
Sie haben angedeutet, dass der Schriftsteller Sascha Anderson, dem Sie persönlich und künstlerisch eng verbunden waren, Sie für die Stasi bespitzelt hatte. Ein absoluter Vertrauensbruch. Ihr Westberliner Galerist, der Sie über lange Jahre vertreten hat, ist letztes Jahr insolvent gegangen. Gegen ihn wird ermittelt wegen Verdacht auf Betrug. Erleben Sie das als einen vergleichbaren Vertrauensbruch?
Es ist noch kein Urteil gefallen, das wird die Staatsanwaltschaft klären. Dennoch: Dass mir noch einmal so etwas passiert, war ein totaler Schock. Es ist nicht weniger als die Geschichte mit Sascha Anderson.
Der Galerist muss es ja vorher kommen gesehen haben und hätte seine Künstler vorwarnen können, statt mit mir noch die letzte Ausstellung zu machen, wo es klar war, dass ich von den Verkäufen, die er dort tätigt, nichts sehen würde. Es ist schon eine herbe Enttäuschung nach immerhin 30 Jahren Zusammenarbeit. Dennoch sage ich mir immer wieder: Wer nichts verliert, der nichts gewinnt. Ich werde den Kunstmarkt genau beobachten, ehe ich neue Verbindungen eingehe.
Vielen Dank.
Cornelia Schleime ist Malerin, Performerin, Filmemacherin und Autorin.
Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.