Möglichkeiten zur Prävention und Intervention werden zu selten genutzt
Antonia Seeland & Helene Langbein
Deutschland hat mit der Ratifikation des Übereinkommens Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) im Juni 2023 ein klares Zeichen gesetzt und sich umfassend verpflichtet. Konkret geht es um geeignete, wirksame und faire Maßnahmen zur Prävention, zum Schutz und zur Abhilfe sowie um einen effektiven Zugang zu den Unterstützungs- und Abhilfemöglichkeiten. Auch Risiken bestimmter Sektoren und Berufe sind zu eruieren. Damit ist zu fragen: Wo steht Deutschland, und wie ist die derzeitige Rechtslage zu bewerten?
Antidiskriminierungsrecht
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) feierte gerade seine „Volljährigkeit“. Seit 18 Jahren erfolgt damit der Schutz vor sexueller Belästigung im Arbeitskontext in Deutschland über das Antidiskriminierungsrecht. Dieses zielt auf die Beseitigung von Unrecht, Benachteiligung bzw. sexueller Belästigung, es soll Zugang eröffnen und thematisieren. Vorsatz oder Schuld spielen dabei keine Rolle, sodass seit der Verankerung sexueller Belästigungen im AGG die verletzenden, einschüchternden oder erniedrigenden Folgen maßgebend sind –bedeutend für einem Perspektivwechsel, mit dem die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Kontexte und Machtverhältnisse sichtbarer werden.
Die Definition von sexueller Belästigung in § 3 Abs. 4 AGG bezieht deren vielschichtige Dimensionen – physisch, verbal und non-verbal – mit ein. Das AGG regelt damit genauer und strenger als das Strafrecht, jedoch weniger klar als das IAO-Übereinkommen, was verboten ist.
Arbeitgeberinnen* haben zur Verhinderung und Sanktion sexueller Belästigungen verschiedene Pflichten. Unabhängig von etwaigen Fällen sexueller Belästigung müssen sie Präventionsmaßnahmen ergreifen, indem z. B. alle Beschäftigten informiert und geschult werden (§ 12 AGG). Das ist wichtig, ist doch der erste Schritt gegen sexuelle Belästigung, das Wissen darüber, was verboten ist und welche Handlungsmöglichkeiten bestehen. Das gilt insbesondere, da die Einordnung als sexuelle Belästigung durch ihre intransparente Definition schwierig ist. Arbeitgeberinnen sind zudem verpflichtet, eine Beschwerdestelle im Betrieb einzurichten (§ 13 AGG). Auch die Einführung eines Verhaltenskodexes kann zur Erfüllung der Anforderungen beitragen, indem konkret und verbindlich ausgewiesen wird, welches Verhalten als sexuelle Belästigung gilt.
Ein Blick in die Praxis ist jedoch, insbesondere bei kleineren Betrieben, ernüchternd: Präventivmaßnahmen werden selten ergriffen oder nicht stringent umgesetzt, Beschwerdestellen sind oft unbekannt, und Fälle werden meist nicht gemeldet. Strenge Sanktionen bei Nichteinhaltung haben Arbeitgeberinnen hingegen nicht zu befürchten. Umsetzungsprobleme zeigen sich auch bei den Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen. Das Recht, die eigene Arbeitsleistung zu verweigern (§ 14 AGG), wird praktisch nicht genutzt, da es derzeit den Betroffenen ein hohes Risko auferlegt, das Ausmaß der Verweigerung unverhältnismäßig einzuschätzen. Auch Schadensersatz gegenüber den Arbeitgeberinnen wird aus Angst vor Störungen des Arbeitsverhältnisses und persönlichen Nachteilen kaum eingefordert. Die Probleme spitzen sich im Kultur- und Mediensektor durch häufig kleine Betriebsgrößen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die Machtasymmetrien weiter verstärken, oder die spezifische Bedeutung von Körperlichkeit zu.
Zu konstatieren bleibt, dass Rechte und Schutzvorschriften nach dem AGG konkreter und transparenter zu gestalten sind, sodass deren rechtssichere Anwendung sowohl für Beschäftigte als auch für Arbeitgeberinnen erleichtert wird, was die Rechtsdurchsetzung fördert. Es bleiben auch drängende Fragen, welche das AGG nicht beantwortet: Wie können Selbstständige oder freiberuflich Tätige – das IAO-Übereinkommen bezieht diese mit ein – geschützt werden? Ist es rechtlich „effektiver“, sexuelle Belästigung als Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu definieren? Wie effektiv kann die Sachverhaltsaufklärungspflicht der Arbeitgeberin sein, wenn sexuelle Belästigungen von dieser selbst ausgehen? Was gilt für Entschädigungsansprüche bei Belästigung durch Kolleginnen? Ist das System der individuellen Rechtsdurchsetzung zu überdenken?
Abhilfe und strukturelle Änderungen könnte ein Verbandsklagerecht schaffen, das z. B. Antidiskriminierungsverbände und Gewerkschaften berechtigt, im Namen der Betroffenen zu klagen und ihnen so die psychischen, finanziellen und kraftaufreibenden Herausforderungen eines Prozesses zu nehmen. Dieser Weg könnte mehr Klagen und Präzedenzfälle anstoßen. Eine intensivere Rechtsprechung wiederum kann unklare Regelungen konkretisieren und so zugänglicher machen. Für die Beantwortung mancher Fragen können auch freiwillige Vereinbarungen wie Verhaltenskodizes und Betriebsvereinbarungen helfen. Diese können auch Selbständige und freiberuflich Tätige in den Schutz einbeziehen. In diesem Zusammenhang erscheint auch eine zentrale Meldestelle innerhalb der Branche sinnvoll. Auf diesem Wege würden besonders kleine Unternehmen oder Dienststellen ohne Betriebs- bzw. Personalrat gezwungen, Mindeststandards zur Verhinderung sexueller Belästigung einzuhalten.
Beschäftigtenvertretungen
Betriebs- bzw. Personalräte sind wichtig, um Interessen der Beschäftigten zu bündeln, ihnen eine Stimme zu verschaffen und so dem strukturellen Ungleichgewicht im Arbeitsverhältnis zu begegnen. Konkret haben sie Beschäftigte aktiv vor sexueller Belästigung zu schützen und über die Einhaltung der Verpflichtungen der Arbeitgeberin zu wachen (§§ 75, 80 BetrVG, §§ 62, 80 BPersVG). Bei der Prävention von Belästigungen ist das Betriebsklima wichtig. Genau hier können Impulse von Betriebs- und Personalräten ausgehen. Als Instrument stehen ihnen Mitbestimmungsrechte (§ 87 BetrVG, § 80 BPersVG) und Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen zur Verfügung. Mit diesen können sie rechtliche Lücken, beispielsweise zu konkreten Prüfungs-modalitäten und Anforderungen im Fall einer Beschwerde (§ 86 BetrVG), schließen und für den Betrieb passgenaue Regelungen treffen. Wenn es einen Verhaltenskodex des Unternehmens bzw. der Dienststelle gibt, können Interessenvertretungen diesen im Wege der Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung für alle Beschäftigten verbindlich werden lassen. Darüber hinaus sind Tarifverträge und Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen wichtig, die gute und faire Arbeitsbedingungen fördern und Machtungleichgewichte nivellieren können.
Leider sind jedoch auch ihre Handlungsmöglichkeiten rechtlich ineffektiv. Beispielsweise können sie die Einrichtung einer Beschwerdestelle nach dem AGG fordern, jedoch bleibt die wichtige Frage der Besetzung – nach Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – allein der Arbeitgeberin vorbehalten. Zudem greift ihr Klagerecht bei Verstößen der Arbeitgeberin gegen AGG-Verpflichtungen erst bei groben Verstößen (§ 17 Abs. 2 AGG). Nicht nachvollziehbar ist, dass im öffentlichen Dienst ein Klagerecht der Personalräte derzeit ausgeschlossen ist.
Kündigungsmöglichkeiten
Eine sexuelle Belästigung i. S. d. AGG kann „an sich“ einen Grund für eine verhaltensbedingte bzw. eine außerordentliche Kündigung darstellen. Dabei sind jedoch auch die weiteren Anforderungen des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) zu beachten. Das heißt, eine Kündigung muss verhältnismäßig und das „mildeste Mittel“ sein; insbesondere muss regelmäßig zuerst eine Abmahnung erfolgen. Die schwierige Beurteilung durch die unklare Rechtslage führt nicht selten zum Ergreifen (zu) milder Maßnahmen und steht im Gegensatz zu den Vorgaben des IAO-Übereinkommens zur effektiven Rechtsdurchsetzung.
Deutlich problematischer noch ist es, wenn das KSchG aufgrund der kleinen Betriebs- bzw. Verwaltungsgröße gar nicht erst gilt. Betriebe und Verwaltungen mit weniger als elf Arbeitnehmerinnen sind vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen, wodurch Kündigungen nicht von den Arbeitsgerichten überprüft werden. Viele von sexueller Belästigung Betroffene haben Angst gekündigt zu werden, wenn sie auf das Fehlverhalten von Kolleginnen oder Vorgesetzten aufmerksam machen. Diese Befürchtungen sind in Kleinstbetrieben demnach keinesfalls ungerechtfertigt.
Darüber hinaus greift das KSchG nicht, wenn befristete Verträge auslaufen und nicht verlängert werden. In Branchen wie dem Kulturbereich in denen Befristungen üblich sind, werden die Arbeitnehmerinnen somit nicht davor geschützt, dass sie nach einer Meldung über sexuelle Belästigung als „unbequem“ wahrgenommen werden und deshalb keinen erneuten Arbeitsvertrag mehr angeboten bekommen.
Strafrecht
Auch das Strafrecht bietet nur lückenhaften Schutz gegen sexuelle Belästigung. Strafbar sind nur körperliche Berührungen (§ 184 i StGB). Verbale Äußerungen sind hingegen nur strafbar, wenn eine Beleidigung (§ 185 StGB) vorliegt; damit klafft zwischen dem Strafrecht und dem AGG eine Lücke – problematisch, da eine Strafanzeige im Arbeitsverhältnis zu größeren Spannungen führen kann, von der folglich oft abgesehen wird.
Durch das neue Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) sind Betroffene bei strafrechtlich relevantem Verhalten nun besser geschützt. Es ermöglicht auch Dritten, wie Kolleginnen, eine Meldung über Fehlverhalten abzugeben, verlagert die Beweislast auf die Arbeitgeberin und schützt Hinweisgeberinnen vor Repressalien. Unter „Repressalie“ fällt auch die Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags. Das HinSchG gibt Hoffnung auf effektiveren Schutz, sofern sich die sexuelle Belästigung im strafbaren Rahmen bewegt.
Ausblick
Den Anforderungen des Übereinkommens Nr. 190 wird Deutschland derzeit nicht gerecht, zu schwach sind Präventionspflichten, zu groß die Barrieren, um sich gegen sexuelle Belästigung zu wehren, Kleinbetriebe und bestimmte Branchen werden kaum erreicht. Arbeitgeberinnen können sich jedoch nicht hinter dem Tätigwerden des Gesetzgebers verstecken. Sie haben bereits jetzt Pflichten und sollten klare Kante zeigen. Wichtig sind rechtssystematische Änderungen, die das Ineinandergreifen der verschiedenen gesetzlichen Schutzregelungen stärken. Auf betrieblicher Ebene ist eine systematische Politik notwendig, die Prävention vor sexueller Belästigung zum Querschnittsthema im Sinne eines Mainstreamings macht. Damit sind Verfahrensregelungen – im Gegensatz zu Klagemodellen – zu stärken.
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns im vorliegenden Text für die Verwendung des generischen Femininums entschieden. Es sind stets alle Geschlechter gemeint.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/24.
Antonia Seeland und Helene Langbein sind wissenschaftliche Referentinnen am Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung in Frankfurt/Main.