Porträt der Verlegerin und Produzentin Ute Kleeberg
Andreas Kolb
Bis zu 200 Jahre alt können Seeigel werden. Da ist der SEE-IGEL, um den es hier geht, noch ein Frischling. 1995 gründeten Ute Kleeberg und ihr Mann, der Klarinettist Uwe Stoffel, die Edition SEE-IGEL. Da beide der Bodenseeregion sehr verbunden sind und auch während Lebens- und Arbeitsphasen in Reutlingen und Berlin stets am Ufer des Untersees eine Heimat hatten, gibt es seit dieser Verlagsgründung auch dort SEE-IGEL.
Die Edition produziert vor allem CDs, ein Audioformat, das die jüngeren der Leser von Politik & Kultur nur noch aus ihrer Kindheit kennen. Aber es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass auch sie den Geschichten und Märchen der Edition SEE-IGEL schon zugehört haben. Denn die Zielgruppe waren und sind Menschen ab fünf Jahren. Das Motto der Edition lautet seit 29 Jahren unverändert „Klassische Musik und Sprache erzählen“. „Eine Geschichte wird erzählt und Musik erklingt. Aber nicht als Hintergrundkulisse, sondern als Element eigenen Rechts. Man lauscht abwechselnd dem Sprecher und der Musik, die – eigens und mit vorbildlicher Sorgfalt eingespielt – das Geschehen dezent kommentieren kann, aber nicht muss“. In dieser Beschreibung von Juan Martin Koch in der neuen musikzeitung steckt das poetische Geheimnis der inzwischen über 40 SEE-IGEL-Produktionen.
Die Protagonisten, die die fantastische SEE-IGEL-Welt bevölkern, sind häufig alte Bekannte: Nussknacker und Mausekönig, der kleine Muck, Schneeweißchen und Rosenrot, der gestiefelte Kater, das tapfere Schneiderlein, ein Kaiser mit neuen Kleidern, Rapunzel und einige Märchenfiguren mehr. Das Schöne ist, dass Ute Kleeberg ihre ausgewählten Märchen gerne behutsam neu erzählt, ohne die Seele der Märchen zu verletzen. Dadurch werden sie auch für die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer des 21. Jahrhundert verständlich.
„Mich haben immer wieder Dinge an Märchen verärgert“, sagt Kleeberg, „insbesondere die klassische Rollenverteilung. Dass der Held immer noch eine Prinzessin geschenkt kriegt und die einfach nur schön ist und dazu nicken darf, das hat mich immer zur Weißglut gebracht. Als Erwachsene habe ich mir einen Kindheitstraum erfüllt und die Märchen ganz vorsichtig an manchen Stellen verändert. Viele merken es ja gar nicht, und das ist das Tolle, die kommen dann nach einem Kinderkonzert und sagen: ‚Mensch, Frau Kleeberg, ich wusste gar nicht, dass die Märchen heute noch so aktuell sind, das ist erstaunlich.'“ Ergänzt werden die Klassiker von Wilhelm Hauff, E.T.A. Hoffmann und den Gebrüdern Grimm um eigene Stoffe von Kleeberg oder auch um Kinderbuchklassiker wie „Ferdinand der Stier“ von Munro Leaf, eine Produktion, für die Kleeberg auf eine Komposition von Rolf Liebermann zu dieser Geschichte zurückgriff.
Will man wissen, wie man Hörspielproduzentin werden kann, dann empfiehlt sich die Lektüre des folgenden Märchens: Es war einmal eine Studentin namens Ute Kleeberg, die in Reutlingen und Tübingen Sonderpädagogik und Deutsch für das Lehramt studierte. Mit klassischer Musik hatte sie zunächst nicht viel am Hut, aber mit Geschichten und Märchenerzählen. Ihre Leidenschaft für Märchenliteratur spielte auch in Ute Kleebergs Unterricht an der Oberlin-Schule für verhaltensauffällige Kinder eine wichtige Rolle. Irgendwo in den Straßen und Gassen der alten Reichsstadt Reutlingen muss sie dann ihrem Prinzen begegnet sein, bürgerlich Uwe Stoffel, seines Zeichens Soloklarinettist in der Württembergischen Philharmonie. Die beiden verliebten sich ineinander, heirateten und gründeten eine Familie. Ende gut? Nein, das war erst der Anfang. Das SEE-IGEL-Märchen geht weiter: Kleeberg und Stoffel beginnen, Live-Konzerte für Kinder in der Reutlinger Stadtbibliothek zu veranstalten. Später wird daraus der musikalisch-literarische Salon in Reutlingen, den es bis heute gibt. Es kommen nicht nur viele Kinder mit ihren Eltern, auch der SWR kriegt von der erfolgreichen Produktion Wind und man schließt einen Produktionsvertrag, der viele Jahre Bestand hat. Ute Kleeberg sucht die Texte aus, Uwe Stoffel macht Musik, und so leben die beiden glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
So könnte es gewesen sein. In der Realität ging es dagegen nicht immer ohne Diskussionen: Kleeberg sucht ihre Musik sehr wählerisch aus den musikalischen Angeboten aus, die sie von Uwe Stoffel bekommt. Ein langwieriger Prozess, immer wieder muss er auf die Suche gehen. „Eines Tages bringt er etwas“, so Kleeberg, „an das er zu Beginn der Suche vielleicht noch nicht gedacht hat. Manchmal passt dann gerade dieses Stück haargenau.“
Für diese künstlerische „Passgenauigkeit“ heimst die Edition seit fast drei Jahrzehnten Preise ein: Begonnen hatte es 1997 mit der Empfehlung für den Medienpreis Leopold des Verbands deutscher Musikschulen (VdM): „Sternenstaub“ erzählt die Geschichte von Schneefrau und Schneemann, die unter dem verzauberten Sternenhimmel der Weihnachtsnacht für genau eine Stunde lebendig werden. Freudig brechen sie auf, um einander zu suchen, aber sie verfehlen sich. Alles scheint verloren, bis dann doch ein Wunder geschieht … Einfühlsam wird dieses ansprechende und fantasievolle weihnachtliche Märchen von Karin Pfammatter (Schauspielhaus Düsseldorf) und in der Neuauflage 2020 von Benno Fürmann gelesen. Die Musik – sorgfältig ausgewählte Ausschnitte aus Kammermusikwerken verschiedener Epochen – gibt der Erzählung Raum und unterstreicht die jeweilige Stimmung. Die Musiker sind Mitglieder der Stuttgarter Philharmoniker und der Württembergischen Philharmonie. Zur CD gehört ein liebevoll gestaltetes Bilderbuch mit Illustrationen von Christian Dierks.“
Seither vergeht beinahe kein Jahr ohne Auszeichnungen, etwa mit dem Medienpreis Leopold des VdM, einer vielfachen Nennung auf der hr2-Besten-liste, dem Heidelberger Leander, dem ECHO Klassik 2010 sowie zahlreichen Vierteljahrespreisen wie auch dem Ehrenpreis 2021 der Deutschen Schallplattenkritik. Allen Ehrungen zum Trotz, die große Zeit der physischen Tonträger ist vorbei: „Heute verkaufe ich CDs in homöopathischen Mengen. Streaming und Download kommen für mich aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Vor allem ist die Vergütung der Produktionen auf Streamingportalen zutiefst unmoralisch: Der Wert pro Stream beträgt 0,0040 Euro. Das führt dazu, dass ich keine neuen Produktionen machen kann. Mein Umsatz reicht derzeit gerade, um mein Warenlager zu bezahlen und meine Auslieferung. Das hat bei mir dazu geführt – und jetzt kommen wir wieder zu dem musikalisch-literarischen Salon in Reutlingen – dass ich Live-Veranstaltungen für Erwachsene und für Kinder produziere. Von verschiedenen Orchestern habe ich Anfragen bekommen. Diese Live-Produktionen sind jetzt meine neue Arbeit.“ Im Moment hat Ute Kleeberg Anfragen bis 2026 – das Märchen vom SEE-IGEL geht weiter.
Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/24.