Claudia Schmitz
Die Enthüllungen um die Straftaten des ehemaligen Filmproduzenten und mittlerweile verurteilten Sexualstraftäters Harvey Weinstein haben 2017 eine weltweite Bewegung gegen sexualisierte Gewalt angestoßen und eine breite gesellschaftliche Debatte über Hierarchien und über den Umgang mit Macht ausgelöst.
Vor diesem Hintergrund ist auch beim Deutschen Bühnenverein Bewegung entstanden, die zunächst als Prozess der Verständigung innerhalb der Mitgliedschaft beschrieben werden kann: In verbandsoffenen Workshops kamen Intendantinnen und Intendanten, Verwaltungsdirektorinnen und Verwaltungsdirektoren und Vertreterinnen und Vertreter von Rechtsträgern zusammen und haben darüber diskutiert, wie Mitarbeitende vor Gewalt und Grenzüberschreitung geschützt werden können und wie die Zusammenarbeit an den Theatern und Orchestern partnerschaftlich gestaltet werden kann. Ergebnis dieses Prozesses ist ein Papier, das als „1. Wertebasierter Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch“ vom Präsidium, Vorstand und allen Mitgliedern auf der Jahreshauptversammlung 2018 einstimmig beschlossen wurde. Der Kodex stellt das gemeinsame Einstehen für die elementaren Werte Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit in den Fokus und formuliert die klare Verantwortung der Leiterinnen und Leiter von Theatern und Orchestern für den Schutz ihrer Mitarbeitenden vor sexueller Belästigung und Machtmissbrauch.
Die Frage war nun, wie die Werte dieses Kodexes an den Bühnen etabliert werden. Allgemein formulierte Ziele, die für die Mitgliedsbühnen eines ganzen Verbands Gültigkeit haben, müssen für jede einzelne Institution angenommen und Strukturen für ihre Umsetzung geschaffen werden.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass betriebliche Vereinbarungen über einen partnerschaftlichen Umgang miteinander, die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses über Führung, Schulungen von Mitarbeitenden, ein Konfliktmanagement sowie Leitbildprozesse und die Entwicklung von Kodizes schon seit vielen Jahren an vielen Bühnen existiert haben.
Die Errungenschaften des Wertebasierten Verhaltenskodexes auf Verbandsebene waren das gemeinsame Verständnis der Theater- und Orchesterleiterinnen und -leiter zu diesem Kulturwandel und die Erkenntnis, dass gesetzliche und betriebliche Regelungen zwingend umzusetzen sind und dass sie nicht nur vor und hinter, sondern auch auf der Bühne gelten.
Die Prozesse der konkreten Umsetzung der Werte in den Betrieben sowie die Evaluation dazu mündete 2021 in die Verabschiedung eines erweiterten 2. Wertebasierten Verhaltenskodex. Dieses Papier benannte konkret, wer sich diesen Kodex zu eigen macht und für die Umsetzung der darin benannten Ziele verantwortlich ist: Neben den künstlerischen und administrativen Leiterinnen und Leitern der Bühnenbetriebe sind das die Vertreterinnen und Vertreter der Gesellschafter und Träger, also diejenigen, die die Leitungen der Theater und Orchester aussuchen und engagieren.
Neben der Verantwortung der Genannten formuliert der erweiterte 2. Kodex deutlich deren Verpflichtung, aktiv dafür zu sorgen, dass die Werte des Kodexes in den Betrieben zur gelebten Praxis werden.
Die Umsetzung der Werte und Ziele eines Kodexes ist ein Prozess der Organisationsentwicklung, das heißt ein systematischer Prozess zur Optimierung der Organisationsstruktur und der Organisationskultur. Als Verband haben wir unseren Mitgliedern eine Toolbox für diesen Prozess zur Verfügung gestellt. Darin befinden sich Checklisten, Fortbildungsangebote und kollegiale Beratung über Good-practice-Beispiele. Diese Tools geben eine Hilfestellung, die benötigten betrieblichen Strukturen zu schaffen. Diese Strukturen sind die Voraussetzung für die Etablierung einer neuen Kultur in der Organisation. Diese Kultur kann indes nicht über ein Papier verordnet werden, sie muss von Menschen geschaffen und gelebt werden. Hierzu braucht es zunächst das Commitment aller Beschäftigten auf allen Ebenen. Es braucht die Erkenntnis, dass für den Prozess der Etablierung einer neuen Kultur des Miteinanders Zeit, Energie und finanzielle Mittel nötig sind. Auf dem Weg werden Fehler passieren. Es braucht die unbedingte Bereitschaft, diese Fehler anzunehmen, aus ihnen zu lernen und weiterzumachen. Er braucht zudem das Bekenntnis der Leiterinnen und Leiter der Bühnen zu diesem Prozess, und es braucht – ohne Vorbehalt – die Bereitschaft der Vertreterinnen und Vertreter der Träger, ihre Institution bei diesem Prozess aktiv zu unterstützen, zu fördern und zu fordern. Diese Begleitung beginnt mit dem verantwortlich und transparent gestalteten Prozess der Auswahl einer künstlerischen resp. administrativen Leitung, und sie endet nicht mit der Beendigung der Zusammenarbeit mit dieser Leitung: Gerade dann brauchen die Beschäftigten die Unterstützung der Träger, begonnene Prozesse weiterzuführen, zu lernen und ggf. neu zu starten.
Dieses Zusammenwirken ist komplex, es fordert, und wir erleben immer wieder Rückschläge. Diese sind kein Ausdruck des Scheiterns, sie zeigen vielmehr, dass die Bühnen und ihre Träger auf der Suche und auf dem Weg zu einer neuen Kultur sind.
Claudia Schmitz ist Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins.
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Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/24.