Die Ethnologin Carola Lentz ist neue Präsidentin des Goethe-Instituts
Von Ursula Gaisa
Carola Lentz, 1954 in Braunschweig geboren, hat im November 2020 das Amt von Klaus-Dieter Lehmann übernommen. Der Vater Ingenieur, die Mutter Organistin pendelte sie von Kindheit an zwischen Kunst und Wissenschaft. Mit 18 absolvierte sie ein zweimonatiges Dramaturgie-Volontariat bei Peter Zadek am Schauspielhaus Bochum, entschied sich dann allerdings gegen den angebotenen Zwei-Jahres-Vertrag als Dramaturgie-Assistentin und studierte von 1972 bis 1979 Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik für Lehramt an Gymnasien an der Universität Göttingen und an der Freien Universität Berlin, inklusive Referendariat.
Letztendlich entschied sie sich dann doch für eine Karriere jenseits des Schulbetriebs: »Das war 1980/81, da gab es auch für Menschen mit sehr gutem Zweiten Staatsexamen keine Stellenangebote in den Fächern Deutsch und Sozialkunde bzw. Geschichte. Außerdem stellte ich schnell fest, dass ich Schule sehr interessant fand, habe aber auch gemerkt, dass ich mich gern in Themen vertiefe; das hat mich letztendlich zurückgetrieben in die Wissenschaft.«Während ihres Lehramtsstudiums erfüllte sie sich mit einem dreimonatigen Studienaufenthalt in Ecuador einen Traum und forschte später, nach dem Referendariat, dort zwei Jahre lang als Promotionsstipendiatin zum Thema kleinbäuerliches Leben, Arbeitsmigration und indianische Identitäten. 1987 promovierte sie an der Universität Hannover und habilitierte 1996 an der Freien Universität Berlin. Die Stelle dort war verknüpft mit der Bedingung, fortan über Afrika zu forschen. Schon auf ihrer ersten Explorationsreise war sie fasziniert: »Ich fand Ghana überwältigend, gastfreundlich, bekam sofort Kontakt und wurde im Norden des Landes in eine Familie aufgenommen, mit der ich seit über 30 Jahren eng verbunden bin. Familie heißt hier, je nachdem, welche Linien eingerechnet werden, um die 400 bis 500 Personen. Also wurden Nord-Ghana und das angrenzende Burkina Faso mein neues Forschungsfeld. Dieser Region und ihren Menschen bin ich dann treu geblieben bis heute.«
Von 1996 bis 2002 war Carola Lentz Professorin für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2002 bis 2019 hatte sie eine Professur für Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz inne, wo sie seit 2019 als erste Frau mit einer Seniorforschungsprofessur ausgezeichnet wurde. »Meine Forschungsthemen haben sich erweitert und verändert. Ich habe angefangen mit einer Studie zur Arbeitsmigration, später habe ich zu Bodenrechts- und Eigentumsfragen gearbeitet. Themen wie Ethnizität kamen dazu: Wie sortieren sich Menschen in der Kolonialzeit, und wie hat sich das im unabhängigen Ghana verändert? Welche Rolle spielen ethnische Identifikation und regionale Herkunft für Aufstiegsmöglichkeiten? Wie entsteht nationales Bewusstsein? Diese Fragen haben mich umgetrieben. Auch weit über Ghana hinaus. Wobei mir von Anfang an immer am wichtigsten war: Wenn wir forschen, forschen wir mit den Menschen, nicht über sie.«
Neben ihrer Teamforschung und der Mitarbeit in verschiedensten Forschungsverbünden in Afrika und Europa war Carola Lentz Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (2011–2015) und Vizepräsidentin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (2018-2020). Gastprofessuren und Fellow-Aufenthalte führten sie unter anderem nach Frankreich, in die Niederlande, in die USA und nach Südafrika. Als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin leitete sie eine Fokusgruppe zu »Familiengeschichte und sozialer Wandel in Westafrika« (2017-2018).
Erinnerungspolitik und Familienerinnerung waren und sind Gegenstand ihres Forschungslebens, was wertvoll für das – übrigens ehrenamtliche – Präsidentschaftsamt sein wird. Die 1951 ins Leben gerufenen Goethe-Institute sollen die deutsche Sprache fördern und die kulturelle Zusammenarbeit im Ausland stärken. Derzeit verfügt das Goethe-Institut über 157 Institute in 98 Ländern, finanziell unterstützt wird das »Goethe« vom Auswärtigen Amt.
In der Amtszeit ihres Vorgängers Klaus-Dieter Lehmann strukturierte sich das Goethe-Institut ab 2008 radikal um: Die Zentrale wurde verkleinert, Regionen und dezentrale Verantwortungen wurden geschaffen, und es wurde budgetiert. »Dieses dezentrale Arbeiten, dieses Erbe der Ära Lehmann, ermöglicht, auf die regionalen Besonderheiten, Herausforderungen und die kreativen Potenziale einzugehen. Das ist für mich ein attraktives Modell, das ich gerne weiterführe.«
Transnationale, transkulturelle Gespräche und künstlerische Arbeit zu unterstützen, zu Themen wie Erinnerung, Migration, Heimat, Kolonialismus und Dekolonisierung, das sind Schwerpunkte, die sie in ihrer Arbeit setzen möchte: »Begegnungen, Gesprächsräume und Diskussionen zu ermöglichen über die Frage, welche Rolle kann Deutschland und welche Rolle kann Kulturpolitik in einer postkolonialen Welt spielen, die nicht mehr bipolar, also Ost-West, sondern multipolar ist.«
Das Goethe-Institut ist für Carola Lentz also ein großer Netzwerker sowohl im Ausland wie auch innerhalb Deutschlands, immer in enger Absprache mit Künstlerinnen und Künstlern, nichtstaatlichen und staatlichen Kultur- und Bildungsorganisationen wie beispielsweise Theatern, Universitäten, Kollektiven und vielen mehr, aber auch etwa der Kulturstiftung des Bundes oder der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). »Im Ausland arbeiten wir schon lange nicht nur in den Hauptstädten. Auch in Deutschland wollen wir uns nicht nur auf Berlin, München, Köln oder Frankfurt konzentrieren, sondern müssen und wollen mit Ländern und Kommunen zusammenarbeiten. Das ist ein Feld, das ich weiterentwickeln möchte. Am Herzen liegt mir der Rücktransfer der Erfahrungen, der Expertise und der kulturellen Produktionen aus den zahlreichen Standorten des Goethe-Instituts. Diese Schätze aus der ganzen Welt, gilt es zu heben und hier, in Deutschland, bekannt und fruchtbar zu machen. Auch um Rechtsradikalismus, Intoleranz, Abschottung in nationalen Grenzen auf dieser kulturpolitischen Ebene entgegenzutreten.«
Am Thema Corona kommt auch das Goethe-Institut nicht vorbei. Im März 2020 wurden bis auf wenige Ausnahmen alle Institute geschlossen. Inzwischen ist knapp die Hälfte weltweit wieder geöffnet – mit teils strikten Auflagen und Hygienemaßnahmen. Die Sprachkursarbeit findet weitgehend digital oder hybrid statt. »Ich bin sehr beeindruckt, wie gut das GoetheInstitut digital aufgestellt ist, was eine intensive Kommunikation weiter möglich macht: zwischen den Instituten, ihren Partnern und Zielpublika, aber auch zwischen den Instituten und der Zentrale. Nun wird es möglich, Kulturveranstaltungen für ein potenziell globales Publikum auszurichten. Das führt zur Überlegung, ob wir im Sinne von Nachhaltigkeit nicht auch in Zukunft einen Teil unserer organisatorischen Besprechungen und Planungen über diese Medialität weiterführen.« Nach außen wurde z. B. ein Hilfsfonds für durch die Coronakrise in Not geratene Künstlerinnen und Künstler digital ins Rollen gebracht, um Strukturen zu erhalten. Im Juni fand das digitale Festival »Latitude« statt, das internationale Positionen aus Wissenschaft, Kultur und Politik zusammenführte – ohne lange Wege und mit einer Teilnehmerzahl, die nur virtuell ausführbar war.
Und was bedeutet nun Heimat für sie, die ihr Leben lang viel in der Welt unterwegs war? »Heimat ist für mich ganz stark an persönliche Netzwerke, Freundschaften und familiäre Beziehungen geknüpft. Die sind inzwischen translokal, also nicht unbedingt mit einem bestimmten Ort verknüpft. Aber ich habe durchaus eine starke lokale Verankerung, die sich allerdings im Laufe der Zeit erweitert hat: Wenn ich über Jahre hinweg in meiner, man muss schon fast sagen, kitschigen Dorfsituation in Burkina Faso auf der Terrasse meines Häuschens gesessen habe und dann hinter den Savannenbäumen im Westen die Sonne unterging, dann hatte ich auch in der westafrikanischen Savanne Heimatgefühle. Genauso fühle ich mich aber in Mainz zu Hause, wenn ich in meinem kleinen Garten arbeite oder mit Freunden eine Wanderung mit Weinprobe in Rheinhessen unternehme.«
Ursula Gaisa ist Redakteurin der neuen musikzeitung
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/20-01/21