Kirsten Niehuus und das Medienboard Berlin-Brandenburg
Von Andreas Kolb
Am 10. Juni ist es passiert: Seither wartet Kirsten Niehuus jeden Montag sehnsüchtig auf die neue Episode der zweiten Staffel der amerikanischen Serie „Big Little Lies“. Mit ihrer Sucht steht sie nicht allein da, und besonders bemerkenswert ist, dass sie das Suchtmittel Serie sogar selbst professionell fördert. Die Geschäftsführerin des Medienboard Berlin-Brandenburg räumt ein, dass man bis vor fünf Jahren noch nicht daran gedacht hat, welch große Relevanz Serien im Filmkonsum und im Filmbusiness erreichen würden.
„Fragte man früher, welches Buch liest Du gerade, dann heißt das heute, welche Serie guckst Du?“ Niehuus weiß, wovon sie spricht, denn sie hat ihr Hobby „Filmeschauen“ schon vor vielen Jahrzehnten zum Beruf gemacht. Seit 15 Jahren trägt sie die Verantwortung für die klassische Filmförderung des Medienboard Berlin-Brandenburg. Daneben leitet Helge Jürgens als zweiter Geschäftsführer die Abteilung Standortentwicklung und New Media-Förderung: Dabei geht es um die Bewegtbilder, die wir als Games und Webfilme über PC und mobiles Endgerät konsumieren.
Beide Abteilungen zusammen zählen 40 Headcounts, darunter eine große Anzahl Teilzeitkolleginnen und -kollegen. Man teilt sich die sogenannten zentralen Dienste, Veranstaltungen, Rechtsabteilung und Buchhaltung. In der Filmförderung selbst sind zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig: sieben Förderreferentinnen und -referenten, das Back Office und die Geschäftsführerin Kirsten Niehuus. Etwa 400 Drehbücher pro Jahr werden beim Medienboard eingereicht und etwa ein Drittel davon dann auch mit insgesamt 20 Millionen Euro bezuschusst.
Niehuus’ lebenslange Liaison mit dem Film begann in einem Bezirkskino in Hamburg, den Winterhuder Lichtspielen. Im Alter von sieben Jahren erlebte sie dort den Walt Disney-Zeichentrickfilm „Schneewittchen“. „Zuhause hatten wir noch nicht mal einen Fernseher bis ich 14 war“, erinnert sie sich. „Die Filmbiografie ‚Lenny‘ mit Dustin Hoffman war der erste ernsthafte Film, den ich gesehen habe.“
Die Keimzelle war gelegt, Kirsten Niehuus entwickelte sich zur Vielseherin und eignete sich die Film-Expertise quasi spielerisch an. Das Interesse an Film und Kino war riesig, doch wie man in die Filmbranche kommt, wie sie ihr Hobby zum Beruf machen konnte, dafür gab es erst mal keinen konkreten Plan. Sie wählte den Weg über ein Jura-Studium und studierte an der Universität Hamburg Urheberrecht als Schwerpunkt. Der eigentliche Karrierestart im Filmgeschäft war dann ihre Zeit als Verwaltungsreferendarin an der Filmförderungsanstalt (FFA) in Berlin. Die FFA, eine Anstalt des öffentlichen Rechts, ist die nationale Filmförderung Deutschlands. Ihr Budget finanziert sich über die sogenannte Filmabgabe, die von den Kinos, der Videowirtschaft und dem Fernsehen erhoben wird.
Für die junge Frau war „Berlin sowieso die einzig attraktive Stadt neben Hamburg“ und so lag es nahe, sich nach dem Examen erneut in Berlin zu bewerben für den ersten „echten“ Job bei der Filmförderung. Während sich die Justiziarin damals ihr Handwerkszeug als Urheberrechtsexpertin aneignete, stand der obligate Kinobesuch weiterhin im Zentrum. Ein prägendes Filmerlebnis war Detlev Bucks „Erst die Arbeit und dann?“ (1984), wo eine Szene der deutschen Kurzfilm-Komödie direkt vor ihrer Hamburger Haustür gedreht worden war. Neben diesem „sehr modernen Heimatfilm aus dem Norden“ waren die ersten Filme von Wim Wenders prägend. Nach „Hammett“ war „Stand der Dinge“ (beide 1982) eine Abrechnung mit dem amerikanischen Studiosystem und eröffnete eine filmpolitische Diskussion „Autorenkino vs. kommerzielles Studiokino“. Eine Fragestellung, die sowohl die gelernte Urheberrechtsspezialistin als auch die Medienboard-Chefin bis heute beschäftigt. Etwa wenn es darum geht, Serien zu fördern. „Wir fördern allerdings nur dann“, betont sie, „wenn kein Total Buy Out bei den Rechten stattfindet. Also wenn der Produzent Rechte behält, und nicht alles an Netflix abgibt oder ans ZDF oder an wen auch immer.“ Da schließt sich der Kreis zu Wim Wenders und seinem Film „Stand der Dinge“.
Niehuus leitet die Filmförderung des Medienboard Berlin-Brandenburg nicht nur in der klassischen Geschäftsführerfunktion, sondern nach dem Intendantenmodell. Welches Filmprojekt gefördert wird, entscheidet sich also nach intensiver Arbeit und Auseinandersetzung in Gremiensitzungen mit ihren Förderreferentinnen bzw. -referenten und nicht nach dem Urteil einer externen Experten-Jury. „Wenn man die Entscheidungen selber trifft“, sagt Niehuus, „muss man zwar dafür geradestehen, aber man kann auch die Filmlandschaft da unterstützen, wo man es für richtig hält.“ Das Medienboard versucht, die Branche vor Ort in der ganzen Bandbreite zu unterstützen, es gehören aber genauso internationale Koproduktionen dazu: „Als Hauptstadt mit internationaler Population sollten wir uns am Thema ‚Weltkino‘ beteiligen.“
Gefragt, welchen Einfluss das Medienboard auf Film und Produzenten nimmt, erklärt Niehuus: „Wenn wir dran sind, ist das Paket schon beinahe geschnürt. Da gibt es Drehbuch, Produktionsfirma, Besetzung, Regie, Finanzierungspartner, Sender oder Verleih. Wenn uns jemand befragt, dann beraten wir gerne, aber wir sind keine Redakteure.“ Alle Förderungen der Länder, der FFA oder von Seiten europäischer Institutionen sind untereinander kompatibel. Das Medienboard ist eigenständig in der Wahl der Finanzierungspartner. 400 Drehbücher bekommen Niehuus und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Jahr eingereicht, da ist große Effektivität im Zeitmanagement und ebenso große Sorgfalt in der inhaltlichen Bewertung gefragt. Zu jedem Drehbuch bekommt Niehuus ein ausführliches Lektorat und eine Zusammenfassung der Projektdaten: „Wer spielt mit, wer produziert, wer wertet aus, was kostet es, wer sind die beteiligten Partner, für welchen ‚Markt‘ ist das gemacht?“ Denn der Festivalmarkt ist nicht gleichzusetzen mit dem rein wirtschaftlichen Markt. Die Intendantin muss wissen: „Wohin will der Film: Will er ein großes Publikum erreichen, auf einem Art-Festival laufen, oder gehört er in die Nachwuchskategorie?“ Erst wenn alle diese Fragen geklärt sind, liest sie das Drehbuch.
Meist weiß man in dieser Phase bereits, wer die Hauptrollen spielt. „Manchmal ist das ein total wichtiges Kriterium“, sagt Niehuus, „manchmal gar nicht“. Als Beispiel nennt sie den Film „Der Junge muss an die frische Luft“ mit dem Kinderschauspieler Julius Weckauf. „Den kannte niemand. Dass der so eine Granate ist, war nicht abzusehen“. Doch auch da war abzusehen: „Wir hatten ein sehr gut geschriebenes Drehbuch erhalten, mit einer intelligenten, warmherzigen Figurenzeichnung.“ Noch ein typisches Beispiel aus der Juryarbeit der Medienboard-Intendantin: Bei der Serie „Babylon Berlin“ stand die Frage im Raum, ob man tatsächlich auf Deutsch drehen sollte. Ist das eine gute Idee bei einer international gedachten Produktion? Hinterher stellte sich raus: Die Entscheidung war goldrichtig! Denn das Publikum der Streamingdienste reagiert anders als klassisches Kinopublikum. Und anders als früher schaut man in den USA neuerdings auch gerne synchronisierte Filme an, aber auch Original mit Untertiteln.
„Etwa ein Drittel der 400 eingereichten Projekte erhält eine Förderung, das heißt, wir lehnen Projekte in nicht unerheblichem Maße ab“, räumt Kirsten Niehuus ein. „Auch da müssen wir begründen, warum. Eine Ablehnung unsererseits muss nicht das Ende eines Projektes sein. Manchmal entstehen überarbeitete Versionen, manchmal findet sich ein anderer Förderer. Dass man weiß, man ist nicht die einzige Finanzierungsquelle, erleichtert einem die Arbeit schon. Wir sind ja keine Verhinderungsinstitution.“
Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08|2019.