Die Schweizer Regisseurin und Drehbuchautorin Güzin Kar über Frauen in der Filmbranche
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ und „Niemand darf wegen seines Geschlechtes (…) benachteiligt oder bevorzugt werden“, heißt es in Artikel 3 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes. Die deutsche Verfassung feiert im Mai 2019 den 70. Jahrestag ihres Inkrafttretens. Betrachtet man die geringe Zahl von Frauen in Führungspositionen von großen Unternehmen, die Ungleichheit in der Bezahlung von weiblichen und männlichen Beschäftigten und die MeToo-Debatte um Sexismus und Machtmissbrauch, ist jedoch noch viel zu tun auf dem Weg, die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern tatsächlich zu erreichen. Wie sieht die Situation für Frauen in der Filmbranche aus? Behrang Samsami spricht darüber mit der Schweizer Regisseurin und Drehbuchautorin Güzin Kar.
Behrang Samsami: Frau Kar, im Juli 2018 twitterten Sie: „Der Film einer Freundin wird verniedlicht und kleingeredet. Dann läuft er auf internationalen Festivals. Man lobt nun v.a. ‚die starke Bildsprache‘, die aber natürlich allein dem Kameramann zu verdanken sei.“ Als Kommentar fügten Sie noch hinzu: „Als ob die Bildgestaltung nicht maßgeblicher Teil der Regie wäre.“ Warum traut man(n) Frauen nicht zu, eigenständig und geistreich zu sein?
Güzin Kar: Das ist die Ausformulierung eines viel größeren Problems, das nicht nur in der Kunst besteht. Es wird suggeriert, dass Frauen nicht selbst für ihre Leistungen und Erfolge verantwortlich seien, sondern sie einer Kette von Zufällen zu verdanken hätten oder Entscheidungen, die zumindest von außen getroffen wurden. So auch bei Maren Ade, der Regisseurin von „Toni Erdmann“, bei der ich denke, dass doch jedem einleuchten müsste, dass sie eine Frau mit einer sehr eigenständigen Erzählweise ist. Hier habe ich erlebt, dass ihre Leistung kleingeredet und der Eindruck vermittelt wurde, jemand hätte sie dahin gepusht. Dieses Gönnertum spielt eine wichtige Rolle.
Gibt es weitere Eigenschaften, die Frauen zugeschrieben oder abgesprochen werden?
Das Emotionalisieren. Frauen wird damit die emotionale, Männern eher die intellektuelle Seite zugeschrieben. Das Privatisieren und Biografisieren ist aber fast das größere Unglück. Man gesteht Männern zu, dass sie unabhängig von ihrer Biografie aus ihren Erlebnissen etwas machen könnten. Bei Frauen verhält es sich so, als würden wir als Chronistinnen unseres eigenen Lebens agieren und dann die Erlebnisse aus der Gebärmutter heraus schreiben. Dass wir also nicht in der Lage seien, sie zu intellektualisieren und in eine künstlerische Form zu bringen. Daher werde ich auch bei jedem Werk gefragt: „Was hat das jetzt mit Ihrem Leben zu tun?“ Meine Antwort: „Alles und nichts. Wie bei jedem Künstler.“ Die Reaktion: „Ja, aber Moment. Das kann doch jetzt nicht sein, dass Sie das erfunden haben.“ Es wird hier ein Gegensatz reproduziert: Frauen sind Natur – Männer sind Kultur.
Die Darstellung von Künstlerinnen in Medien haben Sie auf Twitter einmal ebenfalls kritisch bewertet: „Bei Frauen immer mit der Kleidung, gefolgt vom Erscheinungsbild, beginnen. Immer. Nicht mit dem, weshalb man sie überhaupt interviewt (also das Werk), nicht mit ihren Leistungen, schon gar nicht mit ihren gewonnenen Preisen und Auszeichnungen.“
Ich bin nicht dafür, dass man das Aussehen nicht kommentieren darf. Das Problem besteht darin, dass man in Interviews, in denen es um etwas anderes gehen soll, stets damit beginnt. Inzwischen hat sich das gebessert. Aber eine Zeit lang war es üblich, dass Interviews – ob nun ein Mann oder eine Frau sie geführt haben – so anfingen: „Sie schlägt die Beine übereinander, die in diesen oder jenen Strümpfen stecken … Der Lippenstift ist so und so.“ Nach der Lektüre dachte ich: Es gibt doch viele andere Möglichkeiten, einen Text zu beginnen. Auf mich wirkt das wie ein Versuch, die Person über das Äußerliche kleinzumachen, weil alles andere bedrohlich erscheint. Man glaubt immer noch, dass für Männer attraktiv zu sein, das höchste Gut einer Frau ist. Sie kann künstlerisch noch so erfolgreich sein. Solange sie nicht sexy ist, hat sie, auf Deutsch gesagt, verschissen.
Woher rühren diese Zuschreibungen, die wir auch bei Frauen selbst vorfinden?
Beim Film merke ich die Auf- und Ab-Bewegungen im Umgang mit Frauen besonders, wenn Jobs oder Fördermittel rar werden. Es handelt sich um normale Verdrängungsmechanismen. Man schaut, dass die Töpfe bei seinesgleichen bleiben – bei Leuten, mit denen man sich abgleicht und denkt, da habe ich noch am ehesten eine Chance. Meiner Meinung nach sind das ganz unbewusste Dinge, aber eben sehr eingespielt. Es hat viel damit zu tun, dass Frauen herausgedrängt werden sollen.
Die deutsche Filmförderungsanstalt hat 2017 eine Studie publiziert, laut der in den meisten kreativen Schlüsselpositionen der Filmproduktionen mehr Männer als Frauen arbeiten: 72 Prozent der Kinofilme werden von Regisseuren, 23 Prozent von Regisseurinnen inszeniert. Drehbücher werden zu 60 Prozent von Autoren und 23 Prozent von Autorinnen verfasst.
In der Schweiz gab es eine Untersuchung von Focal – Stiftung Weiterbildung Film und Audiovision. Sie kam auch zum Schluss, dass Filme am Beginn der Entwicklungsphase noch stärker gefördert werden, wenn Frauen maßgeblich daran beteiligt sind – und dann im Laufe der Entwicklung immer weniger. Wenn ich die Zahlen aus Deutschland höre, hat das offenbar wieder nachgelassen.
Drehbuchschreiben wird als tendenziell weiblich assoziiert, wohl weil es allein am Schreibtisch stattfindet. Regie ist dagegen der männlichste Beruf überhaupt im Filmwesen. Es hat etwas von einer Mischung aus Feldherr und genialer Künstler. Das sind zwei klassische Männerberufe in einem. In der Schweiz hat sich da aber einiges geändert. Wir haben viele erfolgreiche Frauen, wenn nicht gar in den vergangenen Jahren Frauen viel erfolgreicher waren. Ein Beispiel ist Petra Volpe mit „Die göttliche Ordnung“, die auch international einen großen Erfolg hingelegt hat.
Trotzdem ist festzustellen, dass gezögert wird, Regisseurinnen Filme mit sehr hohen Budgets zu geben. Anders bei Männern. Da winkt man eher durch und sagt: „Na ja, er denkt halt groß, wenn er überzieht.“ Bei Frauen heißt es, sie seien schlicht überfordert und könnten ihr Soll nicht einhalten. Richtig ist: Je verantwortungsvoller der Beruf, desto anfälliger ist er für Fehler. Ich denke aber, dass Frauen Fehler viel weniger verziehen werden. Noch. Denn auch hier spürt man Veränderungen.
Es gibt Initiativen wie „5050 by 2020“ in Schweden, die eine Angleichung in der Förderung von Drehbüchern und dem Filmemachen von Frauen fordern. Was halten Sie davon?
Ich wünschte, ich könnte sagen: Es sollen sich die Besten durchsetzen. Das ist aber ein Fehlschluss. Nicht die Besten, sondern die Überzeugendsten setzen sich durch. Daher bin ich inzwischen der Meinung, dass es eine Quote braucht. Ziel sollte sein, die gesellschaftliche Realität zu spiegeln. Bis jetzt gibt es viele schlechte Filme von Männern. Ich finde, dass es auch viele schlechte Filme von Frauen geben darf. Es braucht solche, bis es einen gibt, der herausragt. Am Ende geht es nicht darum, die Besseren zu werden, sondern dass man bei den Frauen auch die schlechteren akzeptiert.
Auch beim Film gibt es teilweise große Unterschiede in der Bezahlung von Frauen und Männern. Laut einer Studie des Deutschen Kulturrates von 2016 melden weibliche Versicherte der Berufsgruppe Darstellende Kunst in der Altersgruppe 40 bis 50 Jahre ein um mehr als ein Drittel geringeres Einkommen als männliche Versicherte derselben Alters- und Berufsgruppe.
Ich hatte in der zweiten Staffel meiner SRF-Fernsehserie „Seitentriebe“ eine junge Mutter am Set. Die Frage war: Kann sie mit dem Säugling, der mit am Set war, spielen? Wenn ich dauernd Pause machen muss, damit das Baby gestillt wird, verteuert sich die Produktion. Auch sind Schwangere schwer zu versichern. Für uns als Team war aber sofort klar, dass sie mitspielt. Wir mussten halt ein bisschen umdenken. Mir fiel auf, wie viele Alkoholiker es unter Schauspielern gibt, die ohne Umstände in Hauptrollen besetzt werden. Da muss man alle zwei Stunden Pause machen, damit er trinken oder in die Therapie gehen kann. Da nehmen alle Rücksicht drauf. Aber sobald eine Frau sagt, dass sie stillen müsse, soll es nicht mehr gehen. Es geht. Auch hier herrschen wieder Vorurteile – vor allem dass man Frauen sofort mit Problemen assoziiert. Wir müssen davon wegkommen, die männlichen Probleme als „naturgegeben“ und die weiblichen als Ausnahmefälle zu betrachten.
Durchschnittlich 40 Prozent beträgt der Anteil von Frauen an Filmhochschulen laut Studie der deutschen Filmförderungsanstalt. Aber nur 23 Prozent der Absolventinnen im Bereich Regie und Drehbuch sind später aktiv in der Kinobranche tätig.
Für die zweite Staffel von „Seitentriebe“ habe ich meine Regieassistentin von der ersten Staffel als Co-Regisseurin geholt. Sie, die in der Zwischenzeit ihren Abschluss gemacht hat, hätte sonst jahrelang gewartet. Wir müssen Frauen in die Positionen holen und nicht nur dauernd davon reden. Bei Frauen sagen wir übrigens immer: „Wir geben ihr eine Chance.“ Das ist wieder so gönnerhaft. Bei Männern heißt es dagegen: „Wow! Wir haben ein neues Talent entdeckt.“ Man kann es auch andersherum formulieren. Man kann sagen: „Hey, ich habe bei mir ein Talent profiliert.“
Die MeToo-Debatte, die in den USA entstand, führte dazu, dass weltweit über Sexismus und Machtmissbrauch in der Filmbranche gesprochen wurde.
Das Ganze ist hochgekocht, weil wir als Gesellschaft keinerlei Handhabe dafür haben. Auch waren wir völlig überwältigt von der Fülle an Erlebnissen. Aber das war nötig, um das Ganze im Blick zu haben. Jetzt geht es darum, eine Handhabe für sexuelle Übergriffe zu finden. Manchmal kann es reichen, sich zu entschuldigen. Da muss nicht jedes Mal ein Prozess stattfinden. Aber wir brauchen Tools und mehr Wissen darüber. Auf solche Dinge reagieren zu können ist ein Kulturgut. Ich hatte solche Fälle auch am Set und weiß, dass es verschiedene Arten gibt, wie man reagieren kann. Wenn es einem gelingt, dass in Teams eine gute Atmosphäre herrscht, hat man wirklich viel gewonnen.
Vielen Dank.
Güzin Kar ist Schweizer Regisseurin, Drehbuch- und Romanautorin sowie Kolumnistin.
Behrang Samsami ist promovierter Germanist, freier Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3|2019.