Claudia Schmitz im Gespräch
Wo stehen die deutschen Bühnen aktuell? Welche Themen bewegen die Theater, die dort Beschäftigten, aber auch das Publikum? Im Gespräch mit Theresa Brüheim schildert die geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, Claudia Schmitz, die derzeitige Situation und gibt einen Ausblick auf anstehende Fragen und Herausforderungen.
Theresa Brüheim: Frau Schmitz, Sie sind seit Beginn des Jahres 2022 geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins. Welches erste Resümee können Sie für diese Zeit ziehen?
Claudia Schmitz: 2022 war ein krisengeprägtes Jahr: die Coronapandemie, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die Energiekrise … Das hat den Bühnen einiges abverlangt. Die Freude über die wieder uneingeschränkte Öffnung der Räume für die Stadtgesellschaft wurde sofort durch die Frage verdrängt, wie wir in diesen Zeiten überhaupt Theater machen können. Es folgten weitere Fragen zum Thema Energie: Sind wir so aufgestellt, dass wir im Winter spielen können? Oder steht wieder eine Schließung bevor? Auf eine Krise folgte die nächste. Dabei waren im Sommer 2022 die Bühnen gerade auf dem Weg, das Publikum nach den pandemiebedingten Schließungen zurückzugewinnen.
Was heißt das für ein erstes Jahr in Verantwortung in einem Verband?
Das bedeutet, dass viele Themen, um die wir uns als Verband kümmern, durch die Erlebnisse der letzten Jahre erst einmal gesetzt sind. Generell gilt: Die meisten Themen, die uns beschäftigen, sind nicht punktuell à point abgearbeitet, sondern es geht um Prozesse. Nachhaltigkeit in den Bühnen ist z. B. ein Prozess. Auch Fragen des Umgangs miteinander, Verhaltenskodizes, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen zum Schutz der Beschäftigten sind Prozesse. Findungsprozesse, da steckt es schon im Wort drin, sind ebenso ein ganz zentrales Thema: Wie finden Träger ihre Leitungen an den Häusern?
Einen großen Raum nahmen die Gespräche mit den Gewerkschaften über die Arbeitssituationen an den Häusern ein. Aus meiner Sicht ist die gemeinsame Vereinbarung – ich betone „gemeinsam“, da es nicht nur eine Forderung der Gewerkschaften war, der wir uns zähneknirschend gefügt haben, sondern auch ein Impuls aus unserem Verband – über deutlich verbesserte Rahmenbedingungen der Solistinnen und Solisten auf den Bühnen zentral. Mit der Vereinbarung der neuen Mindestgage und ihrer Dynamisierung ist ein Quantensprung gelungen. Natürlich weiß ich, dass das eine große Belastung für viele Häuser ist, aber es ist in erster Linie eine große Errungenschaft. Die Errungenschaft ist, dass Solistinnen und Solisten nicht länger von der Gehaltsentwicklung aller anderen Beschäftigten abgekoppelt sind. Das ist wichtig. Darüber hinaus haben wir noch die Einführung einer Gehaltsstufe für alle, die mindestens zwei Jahre in einem Normalvertrag-Bühne-Beschäftigungsverhältnis sind, vereinbart.
In der Ausgabe 2/2022 haben wir Sie in Politik & Kultur porträtiert. Viele der soeben genannten Punkte hatten Sie sich damals als To-dos auf Ihre Agenda geschrieben. Ein weiterer Punkt war auch der wertebasierte Verhaltenskodex. Was ist darunter genau zu verstehen? Was streben Sie als Bühnenverein dabei an?
Den Kodex, die letzte Fassung stammt vom Oktober 2021, haben alle Mitglieder des Deutschen Bühnenvereins verabschiedet. Dieser Kodex bindet aber niemanden unmittelbar in den Institutionen. Man kann ihn ans schwarze Brett hängen, aber damit startet man keinen Veränderungsprozess in den Bühnen. Das heißt, jede Institution hat die Aufgabe, die Werte und Ziele des Kodex gelebte Realität werden zu lassen. Dazu gibt es verschiedene Wege z. B. eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung, bei der Betriebs- und Personalrat sowie ggf. die Belegschaft beteiligt wird. Eine andere Option ist die Erstellung eines Leitbildes. Das ist insbesondere relevant, wenn ich den Umgang mit Macht in den Fokus nehme.
Es wird viel über Missbrauch von Macht geredet. Was heißt das genau? Um dies zu definieren, muss ich in meiner Institution klären, wie der Umgang mit Macht aussehen soll. Nur wenn allgemein gültige Regeln aufgestellt sind, können Verstöße gegen diese Regeln festgestellt und nachverfolgt werden. Macht hat auch positive Seiten. Sie bietet die Möglichkeit, Dinge zum Positiven zu verändern. Aber dazu braucht es Klarheit und Regeln in den Betrieben. Das ist übrigens nicht alles nur Kür, es gibt gesetzliche Pflichtaufgaben. Es gibt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Nach diesem sind alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verpflichtet, Beschwerdestellen einzurichten und Beschwerdeverfahren zu regeln. Das muss in Form einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung erfolgen, da es sich um eine Maßnahme der betrieblichen Ordnung handelt. Dazu reicht ein Kodex nicht.
Sprich, aus dem wertebasierten Verhaltenskodex des Verbands müssen in den Institutionen individuelle Prozesse entstehen, aus denen entsprechende Regelungen und betriebliche Einrichtungen erwachsen, beispielsweise Beschwerdestellen sowie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. Wir unterstützen dies als Verband, indem wir dazu spezifische Schulungen anbieten.
Neben diesen Prozessen der Organisationsentwicklung spielt die Personalentwicklung eine wichtige Rolle. Man kann die Organisation nur soweit entwickeln, wie das Personal es nachvollzieht, mitträgt und umsetzt. Wenn in einer Betriebsvereinbarung steht: „Wir gehen in einem angemessenen Ton miteinander um“, dann versteht da jede und jeder etwas anderes darunter. Klare Regeln müssen die Institution durchdringen. Die Mitarbeitenden müssen entsprechend mitgenommen und geschult werden – mit Blick auf das, was man miteinander verabredet hat. Nur so kann es funktionieren. Das muss stetig erfolgen. Denn es ist ein Prozess, der ständig lebt, der immer wieder beatmet und aktiviert werden muss, der sich auch verändert.
Wenn Beschwerden eingehen, ist das erst mal kein schlechtes Zeichen, sondern es zeigt, dass ein System funktioniert. Menschen müssen wissen, an wen sie sich wenden können. Diskriminierung hat verschiedene Formen. Das heißt, ich brauche für unterschiedliche Sachverhalte von Benachteiligung unterschiedliche Expertinnen und Ansprechpartner, die helfen können, Themen einzuordnen, zu unterstützen, zu beraten, sodass Menschen sich nicht im System verloren fühlen.
Sind zu diesen Themen noch weitere hinzugekommen, die Sie angehen?
Das Publikum ist und bleibt ein wichtiges Thema. Schon vor der Coronapandemie war die zentrale Frage: Wie gelingt es, dass sich in den Zuschauerräumen die Stadtgesellschaft in ihrer Diversität wiederfindet? Die Bühnen sind hier durch die Pandemie ausgebremst worden.
Aktuell nehmen Verband und Bühnen gemeinsam mit einem großen Publikumsprojekt namens „New Alliance“ den Faden wieder auf. Es geht darum, Allianzen mit Menschen, die schon ins Theater gingen und jetzt wiedergekommen sind, neu zu schmieden, aber auch neue Allianzen mit Menschen, die bisher noch nicht ins Theater gegangen sind, entstehen zu lassen. Wir arbeiten mit Partnerinnen und Partnern aus England in Form von Beratung und Befragung. Eine Markstudie ist für den Herbst geplant. Über diese erreichen wir auch Menschen, die aktuell noch nicht ins Theater oder ins Konzert gehen.
Die Studie nimmt die Motivation und die Erwartung der Menschen in den Fokus. Neben der Betrachtung der üblichen Kenngrößen – Alter, Bildungsgrad, Haushaltseinkommen und Verkehrsmittel zur Anreise – wollen wir stärker darauf schauen, was die Menschen bewegt und wieso sie ins Theater kommen. Kommen sie, weil sie etwas Tolles erleben wollen, weil sie Freunde treffen wollen, weil sie ein Gemeinschaftserlebnis suchen? Oder kommen sie aufgrund der besonderen Qualität der Produktionen oder um einzelne Künstlerinnen und Künstler zu sehen? Mein Eindruck ist, dass der Wunsch nach dem Gemeinschaftserlebnis beim Theaterbesuch nach der Pandemie gestiegen ist.
Wo stehen die deutschen Bühnen heute in Hinblick auf den Fachkräftemangel?
Der Druck wächst. Das Thema zieht sich mittlerweile fast flächengreifend durch alle Gruppen von Beschäftigten an den Bühnen, aber auch durch unsere gesamte Gesellschaft. Ursprünglich kommt es aus dem technischen Bereich. Hier streben wir eine Modifizierung der Ausbildung zum Meister für Veranstaltungstechnik an.
In den letzten Jahren haben die Diskussionen über Familienfreundlichkeit an Bühnen und die Bedeutung von Arbeit zugenommen. Das ist auch ein Ergebnis der Pandemie. Junge Menschen bewerten Arbeit anders. Arbeit ist ein Aspekt des Lebens unter vielen; nicht mehr der entscheidende. Der Wunsch nach Teilzeit ist viel stärker.
Theater und Konzerte finden dann statt, wenn alle anderen freihaben. Das wird sich auch nicht ändern. Der Sinn des Angebots ist, es so zu gestalten, dass es möglichst viele Menschen wahrnehmen können. Auch im technischen Bereich sind die Arbeitszeiten oftmals an den Proben- und Vorstellungsbetrieb gekoppelt, d. h. es sind auf den ersten Blick nicht sehr attraktive Arbeitsbedingungen.
Trotzdem ist das Theater einer der schönsten Arbeitsplätze. Er bietet eine große Identifikation und Nähe mit dem, was dort stattfindet. Es werden immer Prototypen hergestellt. Es ist nichts vom Band, nichts Stereotypes. Man kann sich einbringen.
Es ist unsere Aufgabe, das stärker herauszustellen. Wir reden sehr viel – forciert durch die Kommunikation der Gewerkschaften – über Herausforderungen bei der Arbeit in einem Theater, über Stoßzeiten, über Belastungen in einer Endprobenphase und, und, und. Wir reden aber nicht darüber, dass es auch Phasen der Entlastung gibt – und zwar immense und damit große Freiräume, die wir nicht aufs Spiel setzen sollten.
Eine Phase der Entlastung sind die Theater-Sommerferien. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, hat in der Neuen Osnabrücker Zeitung gesagt, er finde, dass nicht alle Theater zur gleichen Zeit im Sommer schließen sollten, um darstellende Kunst und Kultur für möglichst viele Menschen über das ganze Jahr hinweg zugänglich zu halten. Wie sehen Sie das als geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins?
Ich sehe es dezidiert anders. Es ist nicht so, dass im Sommer für sechs Wochen der Schüssel umgedreht wird und alle weg sind. Die Zeiten werden genutzt.
Es gibt den schönen Scherz: „Sie sind Schauspieler. Was machen Sie eigentlich tagsüber?“ Wenn Sie sich die Disposition eines Theaters anschauen, werden Sie keinen halben Tag in der Spielzeit finden, an dem die Bühne leer steht. Das glaubt man immer nicht. Man guckt auf ein Monatsleporello und sagt: „Montag nichts, Dienstag nichts, Mittwoch nichts.“ Ja, doch! Dann finden Proben statt. Meistens die Endproben für die Produktion, die 14 Tage später Premiere hat. Außerdem muss eine Bühne gepflegt und unterhalten werden. Es gibt technische Einrichtungen, die gewartet werden müssen. Der eiserne Vorhang muss geprüft werden, der TÜV muss kommen, die Beleuchtung muss gewartet werden, der Bühnenboden muss abgeschliffen und alle paar Jahre erneuert werden. Diese Arbeiten der Instandsetzung werden vor allem im Sommer gemacht. Und das geht auch nur im Sommer, sonst findet sich dafür keine Zeit. Außerdem findet kulturell eine ganze Menge im Sommer statt. Es gibt Privattheater und Festivals, die Veranstaltungen zeigen. Denen würde man ins Geschäft hineinpfuschen, wenn auch im Sommer noch die öffentlich geförderten Bühnen bespielt werden.
Sprechen wir vom Bildungsauftrag, reden wir auch von Schulen. Die Schülerinnen und Schüler haben auch Ferien. Schon in den 1990er Jahren hat man Sommerbespielungen versucht. Ich habe das im Nationaltheater in Mannheim miterlebt. Es rechnet sich meist nicht. Viele Leute sind entweder im Urlaub oder möchten die schönen Sommermonate nicht in einem dunklen Theaterraum verbringen. Viele Theaterbühnen und Orchester schließen auch nicht sechs Wochen komplett, sondern bieten eine Open-Air-Bespielung an.
Uns beschäftigt aktuell intensiv die Familienfreundlichkeit der Bühnen. Auch das spielt in die Frage der Theaterferien hinein: Wie ermöglicht man den Mitarbeitenden, die zum Teil Kinder haben, Zeit, um sie gemeinsam mit der Familie zu verbringen? Daher ist im Tarifvertrag für die künstlerisch Beschäftigten an den Bühnen festgeschrieben, dass zwei Drittel des gesamten Urlaubs, und das entspricht einem ganzen Monat, in den Theaterbetriebsferien gegeben werden soll. Wann soll dieser Monat gegeben werden, wenn nicht im Sommer?
Theater ist ein Kollektivsport. Es ist kompliziert, komplex und kleinteilig zugleich. Aber dieses Verständnis braucht es auch, um darüber nachzudenken, warum Dinge so sind, wie sie sind. Mit diesem Verständnis kann man dann schauen, was veränderbar ist und was nicht.
Vielen Dank.
Claudia Schmitz ist geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9|23.