Fatima Çalışkan
Unter Intersektionalität verstehe ich mit Bezug auf die Juristin Kimberlé Crenshaw Folgendes: Sie sagte bereits Ende der 1980er Jahre, dass sich Systeme der Ungleichheit und Diskriminierungen überschneiden. Die Analyse der Intersektion verschiedener Identitäten begann allerdings schon im 19. Jahrhundert mit anderen Stimmen des Schwarzen Feminismus wie Sojourner Truth oder später dem Combahee River Collective. Intersektionale Ansätze untersuchen und benennen Auswirkungen mehrdimensionaler Ungleichheiten aufgrund von z. B. Geschlecht, Race, Behinderung und Klasse.
Konkret geht es darum zu verstehen, dass es Diskriminierungen, wie etwa Rassismus und Antisemitismus, in unserer Gesellschaft gibt und alle damit verstrickt sind. Wir können uns nicht davon lösen, Teil der Probleme zu sein, weil wir selbst in so vielen Situationen diskriminieren — angefangen bei schnellen, gedankenlosen Sprüchen auf dem Flur, stereotypen Auswahlrastern bei Einstellungsgesprächen bis hin zu den allertiefsten düsteren und staubigen Winkeln unserer Institutionen und aller Strukturen, in den wir uns bewegen. Wir können uns nicht davon freimachen. Und ich spreche mit Tupoka Ogette, wenn ich sage, dass wir alle zwar nichts dafür können, in welche Welt wir hineingeboren werden. Aber wir können alle Verantwortung dafür übernehmen, diese Welt zu gestalten.
Führungspersonen tragen Verantwortung. Sehr viel sogar. Einige wünschen sich vielleicht manchmal, nicht allein mit der ganzen Verantwortung zu sein. Dass auch die Mitarbeitenden erkennen, wie viel die Führungskraft für den Betrieb tut. Diese Sehnsucht verstehe ich. Die bittere Wahrheit ist, dass wir Dinge in erster Linie nur erkennen und verstehen können, wenn wir sie nachfühlen können. Wer also die Verantwortung anderer nachfühlen soll, sollte selbst auch Verantwortung ausüben können. Wie sähen Organisationen aus, in denen Verantwortung von vielen ernsthaft getragen wird? In der Multiperspektivität und Vulnerabilität zusammenkommen? Es geht mir nicht um Identitäten, sondern um Sachlichkeit, Integrität, darum, das Ganze zu denken und nicht nur sich selbst. Sich klarzumachen, dass Organisationen von vielen Menschen getragen werden.
Ich bin der Meinung, dass sich von der Idee der Leitfigur und vom Führungsnarrativ verabschiedet werden sollte. Es gibt weder einen Genius universalis in Führungen noch sind einzelne Personen umringt von einer Aura, einem Genius.
Wie Elena Ghizzo, Mitbegründerin und Koordinatorin des „Feminist Hiking Collective“, es einmal formuliert hat, gibt es sowieso nichts mehr, in dem jemand die erste, die jüngste oder die schnellste Person sein kann. Das ist Schnee von gestern. Wir haben 2022 und wir wissen, dass jeder Erfolg davon abhängt, wie gut eine Gruppe arbeitet. Und vor allem hinterfragt werden muss, was Erfolg eigentlich heißt.
Was bedeutet das für die intersektionale Praxis? Heutzutage wird schnell das Wort Kollektiv genannt, wenn eigentlich Aufgabenteilung gemeint ist. Darin liegt ein Missverständnis in den Begriffen. Im Zusammenhang mit intersektionaler Praxis in der Führungsebene kann schon von kollektiver Führung die Rede sein. Für mich gilt das nur, sofern die Personen wirklich zumindest ein gemeinsames Ziel verfolgen, wenn Entscheidungen transparent sind, wenn es konsensorientiert ist. Für diese Art der Leitung braucht es aber kein Kollektiv. Dafür braucht es Verbindlichkeit, Vertrauen im Team, Loslassen der eigenen Deutungshoheit und Akzeptanz vieler Perspektiven. Es braucht auch Mut zur Entscheidung, manchmal auch gegen sich selbst, wenn es dem Zweck dient. Es braucht das Eingestehen von Fehlern, das Zuhören, das Lernen.
Wie sieht es mit Practice-Beispielen aus? Mit dem „Salon der Perspektiven“, einem mobilen Ort des Denkens für neue Formen der Zusammenarbeit, wird ein intersektionaler Ansatz verfolgt. Es ist ein fürsorglicher Kosmos an Menschen, die sich gemeinsam durch die Fallstricke und Herausforderungen des manchmal sehr brutalen, manchmal extrem unterstützenden deutschen Fördersystems navigiert und immer versucht, sich selbst von außen zu betrachten und zu fragen: Wen können wir einladen, wen können wir mitnehmen? Und wen schließen wir aus und warum? Das bedeutet auch, sich sehr viel Zeit zu nehmen, sorgsam zu arbeiten. Wir sind der Meinung: Softness ist das neue cool. Im Magazin „YallahSalon“, das wir jährlich herausbringen, versuchen wir diese Sorgsamkeit umzusetzen. Gemeinsames Kuratieren, die eigenen Prämissen immer wieder hinterfragen, Konsequenzen ziehen und Umentscheiden.
Es gibt überall spannende Menschen, die über diskriminierungskritische und gute Arbeitsbedingungen in ihren Häusern und Organisationen nachdenken und Dinge in Bewegung bringen. Trotzdem: Intersektionale Praxis ist eine Suchrichtung, es ist wie ein Laser, der ins All zeigt, und wir bewegen uns alle schwankend an irgendeiner Stelle, mal näher, mal weiter weg von diesem Licht.
Meine These ist, dass mit dem Status quo, dem Weiter-so, keine Lösungen gefunden werden. Es ist ein Drehen im Kreis. Es gibt auch nicht die eine Lösung, die für alle passt. Es muss genau der einzelne Betrieb, z. B. das spezifische Theater, in den Blick genommen werden. Die handlungsleitende Frage sollte sein: Kann die Organisation, die Institution, für die Verantwortung getragen wird, eine Wirkungsstätte für Heterotopien werden? Entscheidend ist aus meiner Sicht das Ausprobieren, das Erproben, das Hinterfragen. Stellen Sie Fragen — fragen Sie sich selbst: Was ist der Sinn von Eingruppierungen nach Schulabschluss? Und was ist Berufserfahrung für mich? Welche Access-Strategien verfolgen wir, oder gibt es bei uns nur eine Rampe? Wer braucht Access? Gibt es in meinem, in unserem Haus Menschen mit marginalisierter Position? Wo sind sie? Sind es die Sicherheits- und Reinigungskräfte? Und bei wem sind sie beschäftigt? Wer darf zur Betriebsfeier? Wer kommt zur Premierenparty? Wo sind die Kinder?
Die Co-Gründerin von „We Are Feminist Leaders“, Leila Billing, untersucht Folgendes: Ihr geht es darum zu verstehen, dass wir nur so sicher und nur so gestärkt sind wie die vulnerabelsten unter uns. Wer ist in Ihrem Betrieb vulnerabel? Und falls Ihnen niemand einfällt, warum fällt Ihnen niemand ein? Es geht darum, undemokratische, intransparente und asymmetrische Kräftebeziehungen und -dynamiken sichtbar zu machen, sie zu transformieren, sie zu zerbrechen. Führung bedeutet, eine Plattform zu haben, legitimiert zu sein, Türen zu öffnen. Wem öffnen Sie die Türen? Welche Türen schließen Sie ab? Und wenn die Tür einmal offen ist: Wer hat eine Schlüsselrolle bei der Mitgestaltung? Sind es bislang strukturell marginalisierte Personen oder nicht?
Im Moment sehe ich drei Wege: Ich sehe Personen, Führungskräfte, die heute so agieren wie vor 20 Jahren. Sie haben ihre rebellische Phase Ende der 1990er Jahre überwunden und ruhen sich leider heute darauf aus. Und ich sehe Menschen in meinem Arbeitsumfeld, die alles besser machen wollen. Sie haben hohe Sensibilität, sind klug und gehen mit Visionen an Häuser. Es dauert aber nicht lange und sie sind völlig ausgebrannt. Völlig erschöpft von den Umständen, den Strukturen und dem Unwillen ihres Umfeldes, mitzuziehen. Und ich sehe Menschen in meinem Arbeitsumfeld, die es in der Theorie schon verstanden haben. Denen aber der Mut und die Kraft fehlen, aufzubegehren, weil sie Angst vor Fehlern und Kritik haben. Allerdings müssen wir ehrlich zu uns und unserem Umfeld sein: Scheitern ist berufliche Wirklichkeit.
Führungskräfte müssen nicht alles auf einmal ändern wollen. Denn die schier endlose Zahl an Möglichkeiten, multipliziert mit dem politischen Anspruch, den wir manchmal an uns haben, führt auch nur ins Burnout. Irgendwo zwischen diesen Extremen, dem Burn-out und dem Nichtstun, liegt das, was wir alle tun sollten.
Fatima Çalışkan ist Moderatorin, Kuratorin, Autorin und Vorständin von FUMA Fachstelle für Gender und Diversität in NRW. Der Beitrag ist der gekürzte Impulsvortrag anlässlich der Fachtagung „Frauen in Führung“ des Deutschen Kulturrates.
Dieser Text ist Teil des Dossiers „Frauen in Führung“. Die einzelnen Beiträge des Dossiers werden durch Illustrationen prägender Frauen aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart begleitet.