Maren Lansink & Marina Fischer
Seit Oktober 2018 haben deutsche Kulturschaffende eine Anlaufstelle bei sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz: die gemeinnützige Organisation Themis Vertrauensstelle e. V. Der Bedarf nach einer solchen Institution, das zeigen die Rückmeldungen vieler Ratsuchender und Mitgliedsorganisationen, hatte schon lange bestanden. Ein starkes Momentum erhielt die Gründung der unabhängigen, überbetrieblichen Vertrauensstelle durch die ersten öffentlich debattierten MeToo-Fälle in Deutschland. Durch ein breites und stetig wachsendes Bündnis von Arbeitnehmenden- und Arbeitgebendenverbänden, öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern, die aktive Zusammenarbeit mit der Staatsministerin für Kultur und Medien, die Förderung durch Verwertungsgesellschaften und Spenden durch Streaminganbieter konnten wirksame Strukturen geschaffen werden: ein niedrigschwelliges, kostenfreies und unabhängiges Beratungsangebot für Menschen aller Gewerke aus den Bereichen Film, Fernsehen, Bühne und Musik, welches juristische und psychologische Expertise mit Kenntnis der Branche und ihrer spezifischen Herausforderungen und Bedarfe verzahnt.
Dieses Angebot wurde bislang in über 2.500 Beratungsgesprächen basierend auf über 900 Fällen sexueller Belästigung an Arbeitsplätzen in der deutschen Kulturbranche genutzt. Im Schnitt werden den Beraterinnen der Themis Vertrauensstelle damit monatlich ca. 15 neue Vorfälle berichtet. Zentrales Prinzip der Themis ist die betroffenenzentrierte und absolut vertrauliche Beratung. Mitarbeitende stehen unter Schweigepflicht, auf Wunsch verbleiben Ratsuchende anonym. Informationen aus Beratungsgesprächen gelangen niemals an die die Themis tragenden Verbände und Mitgliedsorganisationen, den Vorstand der Stelle oder die Öffentlichkeit. Auf diese Weise kann die Organisation Unabhängigkeit und einen möglichst sicheren Raum für Beratungsgespräche gewährleisten.
In einer Erstberatung erörtern die Mitarbeitenden gemeinsam mit den Ratsuchenden die individuelle Situation und finden heraus, inwieweit sie juristisch, psychologisch oder in einem interdisziplinären Beratungssetting unterstützen können. Auch Handlungsspielräume darüber hinaus werden beleuchtet. Gegebenenfalls verweisen die Beraterinnen auf spezialisierte Organisationen und Fachberatungsstellen aus dem Netzwerk der Vertrauensstelle.
Jeder Fall und jede betroffene Person sind anders, bringen unterschiedliche Perspektiven, individuelle Lebenssituationen, Erfahrungen, Erwartungen und Reaktionen auf das Erlebte mit sich. Über den Verlauf der letzten Jahre zeigen sich dennoch einige Muster. Während sich Betroffene aller Geschlechter an die Vertrauensstelle wenden, werden in einer deutlichen Mehrzahl der Fälle männliche Personen als Beschuldigte genannt. Betroffene identifizieren sich zumeist mit dem weiblichen Geschlecht. Auch die Position innerhalb von Institutionen spielt eine Rolle: Sexuelle Belästigung zeigt sich zwar auf allen Hierarchie- und Karrierestufen und in allen Gewerken. Auffällig häufig wird sie jedoch als Instrument der Machtdemonstration von hierarchisch übergeordneten Personen gegenüber ihnen unterstellten Mitarbeitenden genutzt. Sich überlagernde benachteiligte Positionen – abhängige hierarchische Position, weibliches Geschlecht, weitere Diskriminierungsmerkmale wie Sorgeverantwortung oder Migrationsgeschichte – sorgen zusätzlich für Verletzlichkeit gegenüber verschiedenen Formen von Gewalt.
Weiterhin lässt sich in den letzten Jahren der Vertrauensstellenarbeit eine Zunahme von Beratungsanfragen minderjähriger Kulturschaffender feststellen, sowie eine deutliche Zunahme der formalen Beschwerden nach Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz – also der Bereitschaft, beim Arbeitgeber offiziell gegen erlebte Belästigung und Gewalt vorzugehen. Diese Tendenzen lassen sich nicht eindeutig oder kausal interpretieren, können aber vorsichtig als eine langsam wachsende Sensibilisierung und Bereitschaft der Branchenmitglieder gelesen werden, sich gegen Grenzüberschreitungen zur Wehr zu setzen.
Neben diesen Tendenzen ist die Palette der Beratungsanliegen und -verläufe vielfältig. Manchmal möchten Betroffene oder deren Angehörige nur einmal anonym von der Situation erzählen und wünschen keine Begleitung darüber hinaus. Hier geht es in erster Linie um einen geschützten Rahmen, um mit dem Erlebten oder Gehörten nicht alleine zu bleiben sowie Ängste, Sorgen, Irritation, Wut oder Scham offen thematisieren zu können. Andere Ratsuchende vereinbaren nach dem Erstgespräch Folgeberatungen, um psychologisch im Umgang mit einer belastenden Situation unterstützt zu werden, um eigene Bedürfnisse und möglicherweise ambivalente Gefühle zu klären oder um herausfordernde Gespräche oder juristische Schritte vorzubereiten. Nur einige der häufig aufkommenden Fragestellungen: Wie wende ich mich an die zuständige Führungsperson, um einen Übergriff anzusprechen? Wer könnte diese Person an unserem Haus sein? Was passiert nach einer Beschwerde? Möchte ich zurückmelden, dass ich mich mit diesem einen Kommentar zu meinem Körper unwohl gefühlt habe? Ich merke, dass meine Freundin seit der Arbeit im neuen Projekt stark verunsichert ist und sich zurückzieht. Wie kann ich gut für sie da sein? Mein Kollege berührt mich während der Probe immer wieder beiläufig, das fühlt sich unpassend an. Was mache ich jetzt? Wie gehe ich mit diesen nächtlichen SMS der Chefin um? War das, was da passiert ist, sexuelle Belästigung?
Oft haben Ratsuchende bereits ein sehr klares Gefühl dafür, wenn Grenzen überschritten worden sind. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, auf dem das Mandat der Themis basiert, orientiert sich bei der Definition von Belästigung nicht an der Intention, sondern am Effekt des betrachteten Verhaltens: ob sich eine Person belästigt fühlt. Entsprechend fällt auch die Antwort der Beratenden auf die letzte der oben aufgeworfenen Fragen häufig bejahend aus. In bis zu zehn kostenfreien Beratungssitzungen können Betroffene weiter bei ihrem Umgang mit dem Erlebten begleitet werden. Entscheiden sie sich im Verlauf nach ausführlicher Aufklärung für eine formale Beschwerde nach Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz an den Arbeitgeber, kann eine Juristin der Themis auf Wunsch die Beschwerdeführung und offizielle Kommunikation im Auftrag der Betroffenen übernehmen. In diesem Fall sind Arbeitgebende gefragt, die Beschwerde zu prüfen und entsprechende angemessene Konsequenzen zum Schutz der Mitarbeitenden umzusetzen.
Auch das wirft häufig Fragen auf. Die Beratungserfahrung aus den letzten fünf Jahren zeigt, dass die Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes bisher an vielen Häusern weitgehend unbekannt und entsprechende Strukturen und Vorgehensweisen nicht erprobt sind. So fehlen vielerorts gesetzlich vorgeschriebene Beschwerdestellen, und auch spezielle interne Ansprechpersonen werden entweder nicht eingesetzt oder den Beschäftigten nicht oder nicht ausreichend bekannt gemacht. Dabei sieht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz für Arbeitgebende ausdrücklich die allgemeine Pflicht vor, erforderliche Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligungen wegen eines in § 1 AGG genannten Diskriminierungsgrundes zu treffen. Darunter fallen auch präventive Maßnahmen. Daher können sich bei der Themis Vertrauensstelle auch Leitungspersonen, Führungsverantwortliche und Arbeitgebende melden. Sie erhalten ebenfalls vertrauliche und individuelle Beratung zu bekannt gewordenen Vorfällen, Beschwerden, sensibler Gesprächsführung, möglichen Präventionsmaßnahmen, dem Aufbau geeigneter Beschwerdestellen oder dem Umgang mit Krisen an Häusern und in Teams.
Um das Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien langfristig respektvoller, fairer und für alle Beteiligten sicherer zu gestalten, wird breit angelegte und zugleich zielgruppenspezifische Prävention zentral sein – von der kleinen Produktionsfirma über das Sinfonieorchester bis hin zum Staatstheater. Erfreulicherweise setzen sich in Deutschland immer mehr Institutionen proaktiv für schützende Strukturen ein und gehen hier auf die Themis zu. Sie lassen sich beispielsweise zur Erstellung maßgeschneiderter Betriebsvereinbarungen und Vertragsklauseln oder bei der Einrichtung und konkreten Ausgestaltung von Beschwerdestellen beraten. Auch die Schulung von Leitungskräften zu diskriminierungssensibler Führung und verantwortungsvollem Handeln im Beschwerdefall wird langsam selbstverständlicher. Neben einem Seminarangebot für Arbeitgebende, Arbeitnehmende, Vertrauens- und Gleichstellungsbeauftragte und seit Kurzem auch für Hochschulen entwickelt das Team der Themis Vertrauensstelle kostenfreies Informationsmaterial für verschiedene Zielgruppen. Es soll erleichtern, zu den komplexen, jedoch anhaltend dringlichen Themen Diskriminierung, Belästigung und Gewalt miteinander ins Gespräch zu kommen, sowie die gemeinsame Verantwortung und Handlungsspielräume der Branche auszuleuchten.
Maren Lansink ist Geschäftsführerin der Themis Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in der Kultur- und Medienbranche und Justiziarin in der juristischen Beratung. Marina Fischer ist Psychologin bei der Vertrauensstelle. Daneben forscht sie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zu Arbeitsbedingungen der Kulturbranche.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/24.