Die Autorin Kirsten Boie im Porträt
Von Ursula Gaisa
Die am 19. März 1950 geborene Kirsten Boie wollte schon als Kind Schriftstellerin werden. Aus Vernunftgründen – bereits mit 15 Jahren dämmerte ihr, dass man mit Bücherschreiben keinen Lebensunterhalt verdienen kann – wurde die promovierte Literaturwissenschaftlerin nach ihrem Deutsch-Englisch-Studium zunächst Gymnasiallehrerin. Auf eigenen Wunsch wechselte sie im Laufe ihrer Karriere an eine Gesamtschule. Nach der Adoption ihres ersten Kindes legte ihr das Jugendamt nahe, ihren Beruf an den Nagel zu hängen und zu Hause zu bleiben. Kirsten Boie fing an, Kinder- und Jugendbücher zu schreiben – zu Themen, die sie bewegten, und im Stil ihres großen Vorbilds Astrid Lindgren. Schon ihr erstes Buch, 1985 unter dem Titel „Paule ist ein Glücksgriff“ erschienen, in dem es um einen adoptierten Jungen geht, wurde ein großer Erfolg.
Es entstanden Klassiker wie „Wir Kinder aus dem Möwenweg“, die Reihe um den schwarzen Detektiv Thabo, der mit seiner weißen Freundin Emma Fälle löst, „Seeräubermoses“ oder „Der kleine Ritter Trenk“. Seit einigen Jahren ist ihr das Thema Leseförderung ein wichtiges Anliegen: Zusammen mit prominenten Mitunterzeichnerinnen und -unterzeichnern aus ihrer Heimatstadt Hamburg wie dem Intendanten der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, Klaus von Dohnanyi, Ulla Hahn oder Rolf Zuckowski hat sie unter dem Eindruck der katastrophalen Ergebnisse der IGLU-Studie – Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung – von 2017 mit der „Hamburger Erklärung – Jedes Kind muss lesen lernen“ eine viel beachtete Bildungsinitiative gestartet. Die Studie hatte festgestellt, dass 18,9 Prozent der Kinder nach Abschluss der Grundschule nicht sinnentnehmend lesen können: „Sie konnten buchstabieren und Worte zusammenziehen, aber nicht den Sinn verstehen. Ich habe dann immer gewartet, dass es zu einem Aufschrei kommt und dass die Politiker sagen: Mein Gott, jetzt müssen wir aber wirklich mal was tun! Aber das blieb aus, und deshalb hab ich im August 2018 diese Petition aufgesetzt“, so Kirsten Boie.
Jedes Kind muss Lesen lernen
Bislang haben fast 120.000 Menschen die „Hamburger Erklärung“ unterzeichnet. Die Unterlagen sind der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, und der Kultusministerkonferenz der Länder zugegangen. „Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass da etwas passieren würde. Doch die Medien haben sich daraufhin immer stärker dieses Themas angenommen, oft auch mit sehr umfangreichen Artikeln, denen auch eine tiefgehende Recherche zugrunde lag. Mein Eindruck war, dass sich das Ganze dann schneeballartig ausgebreitet hat. In Hamburg ist seitdem einiges passiert, und zwar auf verschiedenen Ebenen.“ An 50 Schulen wird seitdem eine neue Methode erprobt, die sich als sehr erfolgreich herausgestellt hat. An mindestens drei Schultagen pro Woche werden die ersten 20 Minuten völlig unabhängig vom Fach nur dem Lesen gewidmet, da ein Ergebnis der IGLU-Studie war, dass der zeitliche Umfang, der an bundesdeutschen Schulen fürs Lesen zur Verfügung steht, nur etwa die Hälfte dessen betrug, was internationaler Standard ist. Diesem Problem kann man mit geringen Kosten abhelfen. „Die Lehrer lernen auch, wie man mit den Kindern überhaupt lesen trainieren kann. Im Deutschstudium zum Grundschullehrer spielt das Thema Lesenlernen oft keine prominente Rolle.“
Die Demokratie kann ohne Lesen nicht überleben
Aber warum ist das Lesenkönnen überhaupt so wichtig? Kirsten Boie stellt es in einen klaren gesellschaftlichen Zusammenhang, der politisch höchst brisant ist: „Qualifizierte Meinungsbildung verläuft immer noch zum großen Teil über Texte. Die stehen diesen Menschen aber nicht zur Verfügung. Gleichzeitig erleben sie ganz real, dass sie am Rand der Gesellschaft leben. Es war ihnen nicht möglich, einen qualifizierten Beruf zu erlernen und sie verdienen nicht gut. Das heißt, sie sind schon aufgrund ihrer Lebenssituation auf der Suche nach Sündenböcken. Das ist doch ganz nachvollziehbar. Irgendwer muss daran schuld sein, dass es mir so schlecht geht, wenn ich nicht mich selbst beschuldigen will. Deshalb sind sie sehr anfällig und dankbar für populistische Theorien, und wenn sie zusätzlich nicht in der Lage sind, Zeitungen zu lesen und immer nur auf den hören, der ihnen am lautesten etwas einreden will, so wundert einen nichts mehr. Die Demokratie kann ohne Lesen nicht überleben.“
Lesen hat keine Lobby
Lesenlernen sollte also eine viel größere kulturpolitische Rolle spielen. Warum es das nicht tut, erklärt Kirsten Boie so: „Bildung ist Ländersache. Der Bund musste sich nicht verantwortlich fühlen, Lesenlernen ist kein Punkt auf der Tagesordnung. Die Länder und Kommunen werden das Problem aber allein finanziell nicht bewältigen können. Deshalb auch der Vorschlag eines bundesweiten Lesepakts, der sich an den Möglichkeiten des Digitalpakts orientiert. Durch Lobbyarbeit wurde da das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik aufgehoben, das heißt, man hat Umwege gefunden. Also warum sollte man nicht einen Lesepakt beschließen, um Kindern das Lesen angemessen beizubringen? Dem Arbeitgeberverband z. B. ist es gar nicht bewusst, dass das Thema für sie relevant ist. Wenn aber die Auszubildenden fehlen, dann wird es das. Die Zeitspanne zwischen dem Lesenlernen und diesen Auswirkungen beträgt aber leider 10, 20 Jahre. Wenn dann die Auszubildenden fehlen, führt das niemand mehr darauf zurück, dass viele nicht lesen konnten und deshalb schon in der Sekundarstufe 1 ausgestiegen sind. Diese Jugendlichen sind nicht zu dumm, den Unterrichtsstoff zu lernen, sie konnten nur nicht lesen.“
In Zeiten von Apps, Tablets und Computerspielen verliert das Lesen aber auch unter den Könnern an Bedeutung, was Kirsten Boie klar ist: „Wenn man bis zu meiner Generation zurückgeht, die selbst ohne Fernseher aufgewachsen ist, dann war Lesen bei uns die einzige Alternative zum Alltag. Kinder wollen immer noch lesen können, weil die Erwachsenen das können. Wenn es aber dann schwierig wird, schrumpft die Motivation. Da können Eltern natürlich etwas tun, indem sie den Medienkonsum der Kinder ziemlich genau kontrollieren und parallel dazu bei den Kindern Spaß an Geschichten wecken. Das ist wirklich durch tägliches Vorlesen möglich. Wenn das Ganze dann auf eine kuschelige Art und Weise passiert, dann lieben die Kinder – auch die ‚Konsolenkinder‘ – das und verbinden diese Erfahrung von Geborgenheit mit dem Lesen.“
Mehr zur Hamburger Erklärung unter: change.org/p/jedes-kind-muss-lesen-lernen
Ursula Gaisa ist Redakteurin der neuen musikzeitung.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/20.